Sonntag, 27. Januar 2008

Zwischentöne


werden immer dann angemahnt, wenn die Melodie, nach der getanzt zu werden hat, mit unmißverständlicher Deutlichkeit gepfiffen wird.

Sadismus


ist das Gerücht über den Marquis de Sade und seine „Juliette oder die Wonnen/ Vorteile des Lasters

Wenn ich mich an den schwarzen Anthropologien der diversen tristen Schöngeister ergötze, ist das kein Bekenntnis zu irgendeinem Kronzeugen für das von mir möglicherweise geteilte finstere Menschenbild, sondern erst einmal ein literarisches Vergnügen. Ich behalte mir als Theoretiker vor, die Sphäre der Vorstellung getrennt zu halten von ihrer Indienstnahme für moralphilosophische/-theologische oder pädagogische Zwecke.

Schon die ganze Anlage dieses Reise- als Anti-Familienromans weist ihn als Gegenentwurf zu den unsäglichen Geschichten aus, die ihren Daseinsgrund in dem schließlich erfolgreichen Sieg der verfolgten Unschuld und sittenstrengen Tugend suchen und finden. Zu meinem innigen Behagen lese ich am Ende des Romans Juliettes tugendhafte Schwester Justine vom Blitz erschlagen, während der Ausbund an gewissenloser Triebhaftigkeit noch weitere zehn Jahre in Glück und Freuden schwelgen darf.
Die Demontage der üblichen Werte (Familie, Religion, Gesetz) folgt dem selben schwungvollen Muster. Es muss dem Marquis großes Vergnügen bereitet haben, denn er gibt sich noch nicht einmal die Mühe der späteren, naturalistischen Entlarver bei der Destruktion dessen, was eh schon mit den Blutströmen seit 1789 den Bach runter war. Das trennt ihn als Feudalen tatsächlich von den Betulichkeiten der Bürger Ibsen und Strindberg.
(Damit ich nicht gleich als Höllenhund ad acta gelegt werde: mir gefällt schon auch, wenn der Kasperl das böse Krokodil mit der Pritsche haut, und es beschleicht mich Genugtuung wenn der Bud Spencer die Bösen verdrischt. Aber auch da bin ich keineswegs davon überzeugt, dass die Bebilderung des Kulturmusters „positives Menschenbild“ eine senkrechte Auskunft über mich oder irgendwen sonst auf diesem Planeten ist.)

Auf ihren Reisen lernt die Titelfigur Juliette, die Auspinselung einer prinzipiell dämonisierten Triebsphäre, unter anderen grundlos niederträchtigen Triebheimern den Polizeipräsidenten Ghigi kennen. Nach dem Motto: „Eines der wichtigsten Gesetze der Natur ist, dass es nichts Unnützes auf der Welt gibt", steckt Ghigi die 37 römischen Krankenhäuser und Asyle für arme Mädchen in Brand. Der bedeutendste Physiker Europas, Graf Braciani, hilft ihm, „daß keines der durch die umsichtige Politik oder vielmehr durch die wollüstige Boshaftigkeit von Ghigi zu Tode verurteilten Opfer entkommt."

Wie man liest, das Werk weidet sich an der genüsslichen Ausmalung eines vorsätzlich einfältigen, nämlich alternativ destruktiven Naturbegriffs. Und das hat erst mal was Erfrischendes gegenüber der öden Naturschwärmerei eines Rousseau: “Alles im Universum zerstört sich, mit Ausnahme der profunden Gesetze des Gleichgewichts. Nur durch Missetaten erhält sich die Natur und erobert sie die Rechte zurück, die die Tugend ihr streitig macht. Wir gehorchen ihr also, wenn wir uns dem Bösen hingeben."
Nu mal langsam mit die Pferde!
Erst wird die „Natur“ mit einem freien Willen begabt, der sich zu Recht an den menschlichen Satzungen missetäterisch vergehe, und dann ist diese mit sich selbst gesetzmäßig im profunden Gleichgewicht schaukelnde üble Tante plötzlich allegorische Normfigur?
Dass noch niemand bislang auf den schwarzhumorigen Dreh hingewiesen hat, der aus lustvoller Hingabe eine neue Moral zu drechseln sich nicht ziert („Meine Lust ist mir Befehl“ ist schon eine der holdesten Drangsale!), mag an der schlechten Presse des Herrn Sade liegen, denn die sorgt gemeinhin konsensheischend für die üblichen Denkhemmnisse.
Was an sogenannten Monstrositäten passiert, soll kurz an einem gewissen Minski illustriert werden.
Ich muß Ihnen jetzt...noch ein paar Enthüllungen über meine Person machen. Ich bin 45 Jahre alt, meine sexuellen Fähigkeiten sind so groß, dass ich niemals schlafen gehe, ohne zehnmal gespritzt zu haben. Es ist wahr, dass die große Menge Menschenfleisch, die ich esse, sehr zur Mehrung und Verdickung der Samenflüssigkeit beiträgt....Da ich hoffe, dass wir uns zusammen entleeren werden, ist es unbedingt notwendig, dass ich Ihnen die erschreckenden Symptome dieser Höhepunkte bei mir im voraus sage. Entsetzliches Geheul geht ihm voraus, begleitet ihn, und die Stöße des Samens, die in die Höhe schießen, spritzen oft fünfzehn- oder zwanzigmal hintereinander bis unter die Decke [... ]Niemals erschöpft mich die Vielzahl der Freuden [...]Was das Glied anbetrifft, von dem all das kommt, hier ist es“, sagte Minski, indem er eine Rute hervorholte, die fünfundvierzig Zentimeter lang war und zweiundvierzig Zentimeter Umfang hatte; obenauf saß ein purpurner Champignon, der so groß war wie ein randloser Hut...“
Wer nicht unbedingt auf Empörung aus ist, der dürfte dieser mit ernstem Gesicht vorgetragenen Groteske über einen abnorm gebauten Menschenfresser ohne die üblichen harten Grenzen, welche die Natur dem Manne setzt, zumindest ungläubig lächeln. Und das Werk selber hilft ihm dabei. Das Schöne am Rationalismus ist nämlich, dass er die Grenzen benennen kann, die dem, was seines Reiches nicht ist, gesetzt sind:
Mäßigen Sie sich also", rät ein erfahrener Bösewicht Juliette nach einigen schlimmen Taten, „unglücklicherweise bieten sich uns die Verbrechen nicht im Verhältnis zu dem Bedürfnis an, das wir haben, sie zu begehen. Ist es nicht richtig, meine schöne Freundin, daß Sie bereits entdeckt haben, daß Ihre Wünsche Ihre Mittel übersteigen?"

Gesetzt den Fall, das Menschenbild vergäße, dass es Fiktion, Illusion, Imagination ist: die Vorstellung noch der gierigsten Transgression sieht sich auf die Begrenztheit der Physis verwiesen.
Wer also – aus welchen Gründen auch immer – den Ernst des Lebens in der Sphäre des diesmal unschönen Scheins auffinden will, der steht mit dem päpstlichen Index und anderen seelsorgerischen Bestrebungen auf einer Stufe, und nicht auf der Ebene des Textes. Ich nenne nur ein Beispiel aus der Rezeptionsgeschichte, das sich wegen seiner Prominenz anbietet.
Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ hat aus dem rabulistischen Naturgleichgewichts-Unfug des Herrn Sade philosophisches „Humankapital“ gegen den Faschismus verfertigt. Das ist als intellektueller Selbstrettungsversuch - vor der Bedrängnis einer ansonsten kapitulationsfreudigen Zeit - in die Gefilde der Philosophiegeschichte zunächst einmal eine durchaus unverächtliche Unternehmung gewesen.
Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass diese verbesserte Neuauflage des alten Urteils der - immer schon und von je her - profund Tieferen über den „Aufkläricht“ sich einen niederzumachenden Popanz ausgerechnet aus der Plunderkiste der Philosophie zurechtlegt, wenn es um Auskünfte über die weltgeschichtliche Aktualität geht: „Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen [bekundet] die Identität von Herrschaft und Vernunft.“
Das nenne ich, ein literarisches Konstrukt für bare Dolche nehmen. Mir, der ich nicht im Legitimationszwang eines Philosophen stehe, fallen 1000 Argumente ein, die sich alle dahingehend zusammenfassen lassen: wenn ich das selbe Ziel mit anderen Mitteln erreiche, erlaube ich mir ein abwägendes Grübeln.

Sade, der während der französischen Revolution als Mitglied des Justizapparats reichlich Gelegenheit gehabt hätte, sich an den - ihn in seinen Büchern begeisternden – Blut- und Spermaströmen zu besaufen, wurde wegen Saumseligkeit und als Opfer von Untätigkeitsbeschwerden, wenn es um die Vollstreckung von Todesurteilen ging, von seinem Posten geschasst.
Also etwas mehr Ernst, meine Herrn! Auf dem Papier eine sich als grenzenlos imaginierende Triebnatur sich belustigen zu machen, ist Welten fern von den Möglichkeiten der Inszenatoren der letzten beiden und folgenden Weltkriege.
„Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ ??? Das scheint mir ein arger Rückfall hinter die ältere Position der Frankfurter Schule, die noch von einer halbierten Aufklärung wusste, wenn es um eine Besprechung des gesellschaftlichen „Verhängnisses“ ging.

Oder sollte vielleicht doch Karl May den Hitler gemacht haben!?

Kein Kunstwerk, diese „Juliette“, dafür ist der bloße Gegenentwurf gegen den moralischen Familienroman zu trivialschematisch, aber doch ein bislang unübertroffener Beweis für den ebenso ohnmächtigen Idealismus des Bösen wie sein pfäffisches Gegenteil.

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