Reisen -Indien 1

Freitag, 21. Dezember 2007

Indien 1

Mi. 10. Okt, Fahrt nach McLeod Gunj

Heute nach Osten zur Zuflucht des Dalai Lama und der seiner exilierten Tibeter. Bin also aus der Gefahrenzone raus.
Habe aber eine Evangeline (Ärztin aus Washington, D. C, 50 Jahre) auf dem Hals, die heilfroh ist, mal ein weißes Gesicht zu sehen, und entsprechend freimütig Selbstdarstellung betreibt. Empörend, wo für so was doch ich zuständig bin!
Erste Verluste sind zu beklagen: ein Vliesshandtuch und meine Ruhe sind dahin. Sage also keiner, ich hinterließe keine Spuren. Bei meiner Verlustrate hat gar mancher in der 3.Welt durchaus Anlass, sich meiner als eines Wohltäters zu erinnern.
Evangeline ist das Inbild des apolitischen Amerika, das keine Theorie über nix hat, und jegliche Mediennutzung schon vor Jahren aufgegeben hat. Sie hat diesen selbstgewählten Lebenszuschnitt auf die in ihrer Prägnanz unschlagbare Formel gebracht: „If it’s important, they’ll tell me.“
Man hat sich nicht für die Bedingungen zu interessieren, nach denen man antreten gemacht wird, man genügt ihnen halt und „stellt sich jeder Herausforderung“, von der man gesagt kriegt, dass sie jetzt angesagt wäre.
Früher war die hierherum mal unter dem Etikett „The white man’s burden“ im Umlauf. Wenn der bebürdete Zivilisierer sich aufopfert, und die Einheimischen/ Kolonisierten/ Zöglinge/ Proleten/ Kaffern/ Aborigines/ der white trash gar nicht begreifen wollen, was man da alles für sie tut, kostet das regelmäßig viele Opfer.
Nicht auf Seiten der Weißen Anglo-Sächsischen Protestanten.

Nachts:
Der gut Angepasste sieht nichts mehr, der Außenseiter ist schlecht im Zuhören. So kommen sie beide gut durch.

Do. 11. Okt. Mc Leod Gunj
Es bleibt nicht aus, dass man bei einer Fahrt durch einen Gürtel angespanntester Spiritualität über die so verschiedenartig sich anpreisende ins Grübeln gerät. Zeit genug hat man ja. Und die Spiritusheimer sind schon arg aufdringlich in ihrer Unüberseh- und Unüberhörbarkeit.
Das reicht vom Schock beim geballten Anblick von Tschador/ Burqa -Trägerinnen: Krähen in Menschengestalt, über die morgendliche Konkurrenz der Hähne des Propheten bis zu den Onkels und Tanten auf dem Nirwana - Trail, die für sich selber in ihrem Hier und Jetzt Reklame laufen: einverständige Versteinendigte, halt Gehirnsklerotiker mit dem ganz großen Hinterblick.
Da trifft es sich gut, die Großen im vollen Schwung ihrer Hinterblickerei beobachten zu können. In einem Schaufenster wirbt mitten in einer Hochburg des Buddhismus der Hinduismus mit einem Zitat seines ideellen Aushängeschilds, Gandhi: „I would rather have India resort to arms in order to defend her honour than that she should in a cowardly manner become or remain a helpless witness to her own dishonour.“ (Mahatma Gandhi, die “Große Seele”) Soviel zum Pazifismus, Nationalismus, Patriotismus in Knäuelform.
Und das Schicksal der Tibeter? Rührt es dich denn gar nicht?
Das Schicksal der Tibeter ist das eines Spielballs der Imperialismen, und ihres Opportunismus, den die sich leisten können. Angesichts dessen enttäuscht die überwältigende Simplizität des Dalai Lama: Liebe, Mitleid, Vergebung. Als ob wir alle nicht irgendwann sogar unseren Eltern vergeben, weil wir in ihnen unsere eigene Qual wiedererkennen und anfangen, sie zu lieben.
UND SONST WAR NICHTS?
Man kann sich entscheiden. Muß aber nicht. Entweder man lebt kontrafaktisch, einer wohltuenden Einbildung ergeben (welche, ist dabei völlig egal), dass Weltjenseitigkeit eigentliche Welterkenntnis sei, oder man stänkert kräftig am Unaufgeräumten herum. Gilt heute eher als pubertäre Wallung. Denn es ist - nicht wahr? - die Konsensfähigkeit, an der sich die Tiefe der menschlichen Reife zeigt.
Soll nicht heißen, dass ich die Tour meiner Antipoden, die sich lieber mit den „Gegebenheiten“ ins Benehmen setzen, mit irgendwas überbieten könnte. Aber, wer Wissen und die Schleichwege der Kunst weghat, der hat darin seine Bindungen, die ihn stillen. Wer keines von beiden hat, der habe Religion.

Nachts:
Der Bildungsspießer zieht seine Überschreitungsstiefel an, hält Gedankenlosigkeit für einen guten Ausgangspunkt zur Transgression und fragt sich morgens vor dem Spiegel: „Wie auch heute wieder für nichts in der Sache zuständig, aber verantwortlich für alles sein?“

12.10. Nachtfahrt nach Manali
So eine 10-stündige Nachtfahrt auf indischen Strassen hat es in sich. Die Straßenverkehrsordnung zählt hier nämlich zur rein fiktionalen Literatur, ist also vergleichbar einem Buch mit Sagen und Legenden, deren Bezug zur Realität auch nur einer vom Hörensagen ist. Der Stellenwert solcher Bücher entspricht dem eines Gerüchtes, wenn es gut geht. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem dort Gedruckten und der harten Praxis liegen ausschließlich darin, dass beide etwas mit dem Geschehen auf der Strasse zu tun haben. Grundsätzlich gehört die Strasse in ihrer vollen Breite dem, der gerade darauf fährt und vorne ist, und zwar schön mittig. Im letzten Sekundenbruchteil entscheidet sich dann ganz situativ wie Überleben und kreativer Fahrstil miteinander zusammenhängen, denn der Praktiker in seinen täglichen Gepflogenheiten weiß das besser als irgendwelche ahnungslosen Verordnungen, die von irgendwelchen Leuten geschrieben werden, die halt gerne schreiben. Der Inder ist da tolerant. Sollen sie.
Eine leere, von Fahrzeugen nicht okkupierte Stelle im Mahlstrom des Verkehrs ist ein Unding, das schleunigst aus der Welt geschafft gehört, und zwar von allen Beteiligten zugleich. Warum das da nicht dauernd zu unschönen Resultaten führt, siehe oben unter:... im letzten Sekundenbruchteil...
Es kommen dir natürlich auch auf deiner Fahrbahn Motorroller entgegen und Falschparker queren von vorne deine Bahn. Erwarte immer das gänzlich Unerwartete, sonst bist du geliefert.
Indien erleben kann jeder. Indien überleben, das ist mit viel Glück verbunden. Ich will eigentlich gar nicht sehen, was der da vorne macht. Setze mich also im Bus doch etwas mehr in die Mitte.

Nachts:
Ich: der Stachel gegen die aufgedrungene Praxis. Ich-Losigkeit: der wilde Entschluss, sich in Abhängigkeit von einem Es zu begeben. Und dieses Eine und Einzige hat mehr denn tausend Namen.

Sa. 13.Okt. Manali
Bin trotz allem heil in Manali im wunderschönen Kullu-Tal angekommen. Morgens um Viertel vor 5:00 Uhr.
Eine Straße wie in Deutschland die gepflügten und winterlich vereisten Äcker. Mit großen Brocken Gestein drin. An Schlafen war nicht zu denken. Meine Innereien wurden ordentlich durchgerüttelt. Die Nieren konnten sich erstmals aus der Nähe besehen, wurden aber wieder vom auf und ab hüpfenden Magen getrennt. Und die Leber schaute kurz vorbei und sagte zwischenrein mal „Guten Tag“ beim Herzen.
Ist Klasse hier, in einem sonnigen, fruchtbaren Tal mit dem schneebedeckten Himalaya im Hintergrund. Die Dächer rotgolden vom zum Trocknen ausgelegten Mais.
Eindrucksvoll die alten Pagodentempel hier im Tal, in denen zum Teil noch sehr lange Menschenopfer dargebracht wurden. Irgendwie erschauert man gedankenlos beim Geräusch „Menschenopfer“. Vergleicht man aber die Katakomben, die dem Moloch des modernen Staats auf dem Altar des Vaterlands geschlachtet werden, mit der gelegentlich anstehenden Versöhnung der ungünstig gestimmten Gottheit durch die Hingabe des höchsten Guts, nämlich EINes Menschenlebens, gerät das Weltbild des abgeklärten Staatsbürgers zwar nicht ins Wanken. Aber es wäre mir doch lieber, er finge endlich an, selber zu denken.

Nachts:
Der Schönheit verzeiht man, was der Gedanke, wofür sie steht, verbrochen hat. Wie unterirdisch grottenschlecht muss die Welt sein, dass es so viel Kunst gibt.

So. 14. Okt. Zum Rohtang-Pass (3978m)
Aus den Apfelplantagen geht es in Hochweidengebiet. Glühendes Laubgold vor blauem Himmel, na du weißt schon. Das wird schon seinen Grund haben, warum mir der Herbst die liebste Jahreszeit ist.
Die Pferde schmusen miteinander, die jungen Leute kommen hierher auf ihrer Hochzeitsreise, und Gott hält ein längeres Schläfchen.
Weiter oben wird dann der Kampf gegen die Frostaufbrüche und Bergrutsche als aussichtslos aufgegeben. Nach drei Stunden sind wir endlich oben und schauen nach Norden ins Lahaul: von hier noch 27 Stunden durch den Himalaya nach Leh in Zanskar. Na, das sollen mal die Jüngeren machen. Mir reichen schon die dreie hier.
Dreht man sich um, sieht man um vier Uhr, wo man um 6 Uhr sein wird. Dazwischen wieder diese ausgesetzten Stellen, das ist, wenn der seitliche Blick aus dem Busfenster keinen Straßenrand mehr sieht, sondern der Halt suchende Blick durch leere Luft in sehr tiefe Tiefen stürzt. Gelegentlich kann man das Resultat besichtigen, wenn ein Bus runtergepurzelt ist. Dessen äußere Ausmaße wirken stark reduziert, irgendwie arg gestaucht und von einer Kompaktheit, in der für Fahrgäste einfach kein Platz mehr ist.
Weiter unten bricht abermals unhaltbar die Idylle aus, und macht Gott wieder sein Nickerchen.
Zwar mit angespanntem glutaeus maximus, aber voll dabei. Ob es so was wie Bergseligkeit gibt? Eine sanfte Bewußtseinstrübung, mit der man sehr einverstanden ist.

Di. 16.Okt. Von Manali nach Shimla
Auf dem Weg hierher war' s genau so wie du dir Indien vorstellst: Elefanten, viel größer als im Zoo, weil man direkt daneben steht; Affen am Wegesrand, sich lausend und kreischend; Palmen und mittelmeerische Vegetation. Der National Highway 21 war endlich mal eine Straße wie bei uns eine Bundesstraße mit 60 km - Gebotsschildern. Später dann schroffes Hügelland, über das der Bus tänzelte und allen Winken des Todes mit Verachtung begegnete.
Bin ziemlich groggy von dem gestrigen,11 einhalb-stündigen Ausflug zu einem Hindu- und Sikh-Heiligtum namens Manikaran.
War ganz interessant, aber dieses Indien mit seiner Auffassung über Lebenszeit jagt dich auf die Palme, oder du sagst dir, dass du zu deinem Tod immer noch rechtzeitig zurechtkommst. Unsereiner hat halt bloß ein Leben, und da haben alle entscheidenden und uns wichtigen Dinge erledigt zu werden. Die Seelenwanderer hier haben gleich mehrere, fahren wohl auch deswegen wie die Henker, und verfahren mit meiner Lebenszeit als hätten sie mich dafür fürstlich entlohnt.
Erst mußten wir für die Rückfahrt auf eine Familie eine ganze Stunde warten (Blödheit oder Unverschämtheit? Wegen der Häufigkeit glaube ich letzteres), dann war es plötzlich Nacht, und der Verkehr hatte sich natürlich an einem Flaschenhals wieder mal verknotet, dann musste auf einer mit Fahrzeugen vollgerammelten Firmentankstelle getankt werden usw. Und dabei saß ich auf heißen Kohlen, weil ich morgens meine Hose zum Flicken beim Schneider abgegeben hatte, und wenn der jetzt geschlossen hat, dann stehe ich morgen schön blöd da. Da habe ich ein bezahltes Ticket nach Shimla schon in der Tasche für den Bus um 8 Uhr 15. Der Schneider macht aber erst um 9.00 Uhr auf.
Was tun? Ticket weg schmeißen? Und übermorgen weiterfahren? OH Scheiße! Reise – Alltags – Organisations -Zeugs.
Wie gesagt, entweder du lässt dich auf die Palme jagen, oder du nimmst es mit Gelassenheit.

Nachts:
Funktionalität der Religion: Gefühlsmodellierung. Die meisten der mir bekannten Vergesellschaftungen geben allen Anlass zu destruktiven Gemütsregungen der ihnen Unterworfenen. Die Moralpredigten darüber werden zu leicht durchschaut als boden- und haltloses Rechtfertigungsgerede. Da muss etwas ganz und gar Anderes, Unglaubliches her, um dem Glauben Glaubwürdigkeit zu verleihen. Credo quia absurdum: die Gebärfreudigkeit einer Jungfrau oder ein elefantenköpfiger Gott.

Mi.17. Okt. Shimla
Direkt neben meinem Hotel war ab 2 Uhr bis 5 Uhr morgens der Teufel los. Die Hindus meinten, sie müssten unter Entfaltung von großem rhythmischem Radau eine Erweckungsfeier oder sonst eine "function" abhalten. Ihre elektrisch verstärkte Responsorien-Musicke ist einfach immer das selbe, leider mit Geräusch verbundene, Tamtam.
Flucht zur YMCA (Young Mens Christian Association) 200 Höhenmeter den steilen Abhang über Treppenwege hinauf.

Dieses Shimla ist genau so wuselig wie Kipling das in seinem Roman ‚Kim’ beschreibt.
Die Affen hier halten genau so wenig wie ich, nämlich nix, vom Gewitterregen. Ducken sich unter irgendwelche Überhänge an Gebäuden und schauen verdrossen drein.

Shimla ist das eigentliche Zentrum der englischen Kolonialregierung gewesen, und das sieht man diesem Stück England auf indischem Boden mit seinen Fachwerkbauten und gotischen Kirchen auch an. Nur die darauf herumturnenden Affenhorden sind einheimisch und sorgen für einen surrealistischen touch.
Weil es den großbritannischen Herren von April bis November sogar zum bloßen Regieren in der eigentlichen Hauptstadt des Kolonialreiches zu heiß war, haben sie sich hierher verzogen auf die kühlen 2000 Höhenmeter und haben zum Wohle Englands von hier aus immerhin die Angelegenheiten des fünften Teils der damaligen Menschheit (von Aden auf der Arabischen Halbinsel bis Burma,heute Myanmar) geregelt.
Dem Regierungshaufen stand ein Vizekönig vor, der sich gleich zu Anfang der britischen Herrschaft, also so kurz nach 1850 eine prächtige Residenz im Stil eines schottischen Renaissance-Schlosses bauen ließ. Mit einer pompösen, mit Teakholz aus Burma getäfelten, Eingangshalle und einem Ballsaal (Glitzerlüster aus Belgien), der heute eine Bibliothek für die höheren Studien in den Geisteswissenschaften ist.
Im Museum kriegt man gleich den richtigen Eindruck von diesen Statthaltern. Sie haben prächtige und schwere Faschings-Kostüme mit schweren Klunkern an, damit man gleich sieht, dass die was Besonderes sind. Hört man solche Leute reden, kommt man nämlich keineswegs auf den Einfall, die wären was Besonderes. Auf ihren großartigen Bällen haben die wahrscheinlich über Kricket und die Aktienkurse geplaudert, und die Frauen über die so-was- von-unmögliche Kleidung der Lady Sowieso und die ungerechte Hinauszögerung der längst anstehenden und verdienten Beförderung des Gatten
-Beglückend wie immer die Gärten. Vorwiegend in diesem Goldlackgelbbraun und dem orangegelb der Kapuzinerkresse, und dem Gelb einer puscheligen Blume, die von den Hindus zu Girlanden und Blumenketten verarbeitet werden, um ihre Tempel zu schmücken.
- Enttäuschend wie immer die Eingeborenen, wenn du sie neugierig nach dem Namen eines Baumes fragst, der hier sehr häufig vorkommt. Sie wissen ihn einfach nicht. Und mit einer Mischung aus Selbstrechtfertigung und Empörung hört man öfter: "Aber der stand doch immer schon da!"
Genau. Und weil das immer schon so war, bedarf es keines näheren Hinschauens oder genauerer Untersuchungen. Ein hoffnungsloser Fall, diese Menschheit.
- Erfreulich wie immer hingegen die Affen, die dem Gärtner einen ständigen Guerillakrieg liefern. Kaum ist der wieder weg, stopfen sie sich auch schon mit Blüten und saftigem Klee aus seinen Beeten und Rabatten voll.
Eins der Äffchen musste dauernd niesen. Hatte wohl gestern zu lange draußen im Gewitterregen rumgetobt.

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