Reisen - Indien

Freitag, 21. Dezember 2007

Indien

Where shit meets eternity:India

Mi. 3. Oktober 2007 Delhi
In Delhi erwacht man zu einer Giftgaswolke von allgemeinem Smog und Dieseldunst. Man wirft sich in die brüllende, rauhe Wildnis des Stadtverkehrs. Um dich herum ein Rattenkönig aus Mensch und Metall, der sich in unregelmäßigen Rhythmen abwechselnd entknäuelt und neu formiert, anscheinend nirgendwohin verebbt und auf der selben Stelle wieder hochflutet.
Ganze Familien und halbe Schulklassen teilen sich eine Motor - Rikscha. Ambassador - Taxis kreuzen klassenbewusst durch den Mahlstrom. Riesige, mit Troddeln aus Wolle verzierte Trucks rumpeln und grunzen vorüber. Mit Kotze verschmierte Busse navigieren auf Kamikazekursen herum und schwitzen eine gehaltvolle Sauce aus Armen und Beinen aus. Statt der üblichen Botschaften („Love is fraud“) findet sich ein „Horn Please“ auf der Rückseite der Trucks, von welcher auffordernden Lizenz ohrenbetäubender Gebrauch gemacht wird. Der sound-track von Delhi ist eine chaotische Kakophonie von tiefem Geröhre, dem Stakkato der Hörner, Quietschen im Bereich des hohen C, Melodiebruchstücken unterlegt mit einem Ostinato im Bariton. Es ist als wäre Delhi blind und verließe sich auf ein gehörgestütztes Chauffieren. Mit Ausnahme derer, die auf Mittelstreifen und an Straßenrändern zusammengerollt ihrer nächsten Wiedergeburt entgegenschlafen. Eine streunende Kuh frisst geruhsam Kekse und den dazu gehörigen Karton auf.
Durch dieses Gewühl lenkt der Inder seinen verbeulten Wagen mit dem Finger einer Hand. Mit einem Finger der anderen bohrt er in der Nase, während er mit der dritten Hand sein Handy ans Ohr drückt.
Ausgemergelte Männer hocken zusammen mit ihren Kumpeln auf ihren Fersen. Wenn irgend möglich höher als das Erdenrund. Also etwa auf der Sitzfläche einer Bank, oder einer rostigen Fahrrad-Rikscha.
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist es 30 Grad warm und Delhi stinkt nach Urin und Scheiße. Ca. 700 000 Haushalte haben keinen Anschluss ans sanitäre Netz.
Ich muss weg hier.

Di., 9. 10. 2007
In einem Heldenlied käme jetzt die erste Strophe, die unseren Liebling kurzentschlossen einen Flug nach Jammu-Kaschmir, also in ein höchst labiles Kriegsgebiet, buchen lässt, weil alle Züge nach Norden ins Ganges-Quellgebiet für die nächsten 5 Tage ausgebucht waren.
Jetzt wo alles gut gegangen ist und vorbei ist, kann ich’s ja beichten, dass die ursprünglich geplante Heldenliedfassung ein übler Hype gewesen wäre. Ich bin vor dem heißen und nach Urin stinkenden Delhi nach Srinagar in Kaschmir geflohen worden und geflogen worden, weil ich einem Schlepper in die Fänge geraten war, und meine Widerstandskraft gegen diesen Kaschmiri auf die Dauer nicht angekommen ist. Der und seinesgleichen akzeptieren einfach kein Nein.
-Welche Hälfte von „No“ verstehen Sie denn nicht?
-Weder N noch O. Sie sind doch hierher gekommen, den Himalaya zu sehen. Haben Sie eben selber gesagt. Na sehen Sie!
So ein Kaschmiri dreht dir aus deinen eigenen Worten den Strick, an dem er dich dann aufhängt.
Der hat mich dann noch auf einem Hausboot eingemietet (ruhige Sache das, sehr nervenschonende Idylle) und mir einen Drei-Tage-Treck in der Nähe von Pahalganj durch die Berge verpasst. War aber soweit alles in Ordnung. Wenn man von dem Preis mal absieht. Noch seine Enkel werden herzlich lachen über den depperten, bleichen Langnasigen, wenn Opa von dem Geschäft erzählt.
In Kaschmir gibt’s eine derart exzessive Militärpräsenz zu bewundern wie ich das in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen habe. Und das will für einen, der mal bei den Landesverteidigern auf der Lohnrolle stand, schon was heißen! Über die abgeernteten Safran- und Reisfelder patrouillieren die Soldaten, auf jedem zweiten Dach hockt einer, auf Friedhöfen und Kreuzungen langweilen sie sich. Kaschmir ist ein Heerlager mit der Bevölkerung als Versorgungsressource.
In der Wildnis hat das aber dann doch nachgelassen. Und die war gar kein bisschen artig, sondern GROOOSSartig. Da gab’s im halbgetrockneten Schlamm Bären- und Schneeleopardenspuren.(Keine Angst, Leute, um Euren lieben Christian, Schneeleoparden gehen nicht auf Menschen.) Es schlägt einem aufs Gemüt, wenn man einen Langur sichtet, der mit einem geschmeidigen Satz über genau den Wildfluss jumpt, in den man noch in diesem Halbsatz und gerade mal ein paar Höhenmeter weiter mit allen Vieren reinplätschert. Du siehst, mit dem Heldenlied will es partout nichts werden.
Es fängt damit an, dass ich mir schon am ersten Morgen beim plötzlichen Aufrichten das Rückgrat verreisse. So entdeckte ich aufs Neue, dass das Alter wirklich nichts für Weich-Eier ist, sondern eine stetig sich erweiternde Sammlung von Handicaps. Also mehr was für Sammler und nix für mich, der ich eher ein Verlierer bin. Nützt mir aber auch nichts. Verliere so nach und nach alle möglichen Selbstverständlichkeiten beim Verfügen über meinen Körper.
Viel frische Luft und unverfälschte Natur. Da lag der aufgedunsene Kadaver eines Mulis. Das hatte ein Leopard in der Nacht gerissen. Jetzt taten ihm die Raben die letzte Ehre an. Fangen bei den Augenhöhlen an, die nach diesem Auftakt aus blutiger Leere nirgendwo mehr hinstarren. Die Raben arbeiten sich dann vom After her in den Leib vor. Weg des geringsten Widerstands. Energieersparnis bei dem kärglichen Nahrungsangebot.
Herbst war’s, und der Gilb schon überall drin. Haschischgärten, Walnussbäume. Da wird mir immer so golden.
Nachts:
Die Redensarten „Das ist kontrovers.“/ „Das ist ein anderer Diskurs.“ fallen unter eine vornehme Form der unbegründeten Zurückweisung wegen Nichtbefassungswürdigkeit. Ein Urteil, das keines ist. Die da glauben, über der Sache zu stehen, stehen gemeinhin beträchtlich unter ihr.

9. Oktober Fahrt nach Jammu

Gestern ein abenteuerlicher Transfer nach Süden auf der einzigen Verbindungsstraße zwischen Nord und Süd, auf der die Äpfel aus Kaschmir nach ganz Indien verfuhrt werden, die Nüsse und Mandeln. 13 Stunden stop and go für 290 Kilometer, Schluchten auf Schluchten nach Jammu.
Bei entsprechendem Lichteinfall sehe ich in der Glasscheibe hinter dem Fahrerhaus in meinem Gesicht eindeutige und definitive Missbilligung. Der Nachbar bohrt mir ungeniert sein Knie unter meine Kniekehle, der Bluterguss in meinem linken Mittelfinger pocht und pocht, der Rücken beschwert sich bei jedem Schlagloch, ein kalter Luftzug streicht permanent über meine Oberschenkel – ich bin nicht gern in dem Kerl, in dem ich hier festsitze.
Jetzt hat der Nachbar sich dazu entschlossen an meiner Schulter zu schlafen. In diesen Bussen ist man eben genau so breit wie man sich macht. Mir wird unmissverständlich klar gemacht, dass ich nicht hier her gehöre. Wenn ich aber nun schon mal da wäre, wüsste der Nachbar guten Gebrauch von mir zu machen. Indien schlägt zu.
Was hier auf die Dauer stattfindet, ist eigentlich kein Warten. Warten ist der falsche Ausdruck. Es geht schlicht um Dasein, ein immerwährendes, in sich kreisendes.
Und wann endet das?
Am Beginn von etwas anderem, genau so vielem Dasein. Das Weltbild des Hindi hat für diese Sichtweise des „Wechsels“ sogar ein eigenes Wort: karnaa = wechseln von einem Zustand in den anderen, und zurück. Man denkt dabei nicht an ein bewirkendes Subjekt wie beim Deutschen „Machen“, obwohl es das ja bedeutet. So wird Licht nicht etwa „gemacht,, sondern es wird - mehr unpersönlich (vom Dunkeln ins) Helle „gewechselt“.

Man stelle sich vor, ich hätte an diesem Tag was vorgehabt, dem ich irgendeine imposante Wichtigkeit beigemessen hätte!
Nachts:
Pascal meint, dass alles Übel dieser Welt davon herrühre, dass die Leute nicht ruhig in ihren Zimmern bleiben könnten.
Dieses Urteil empfiehlt ein ortsfestes, vegetabilisches Ideal, auf das nur einer kommt, der nicht weiß, wo die Brötchen herkommen, mit denen man ihn füttert, der nicht weiß, woher die Bekleidung seiner Rentnerexistenz ihn anfliegt, und wie es zu jenen Häusern kommt, in deren Zimmern zu verrotten höchste Geistigkeit sei.

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