Freitag, 21. Dezember 2007

Indien 2

Do. 18. Okt. Immer noch Shimla
Dieses Shimla hat eine phantastische Lage, nicht nur klimatisch. Im Norden sieht man die Himalayakette und ringsum schroffes Hügelland. In dem bin ich heute rumgewandert.
Auf dem Zugang zum Tempel des Affengotts Hanuman stand mehrfach zu lesen, man solle nur ja auf seine Siebensachen aufpassen. Das galt natürlich mal wieder nicht für mich. Das heißt, ich war mir gar nicht bewusst, dass ich noch die Brille aufhatte.
Und – wutsch! – weg war sie, die Brille!
Ein Rhesusaffe hatte sich die mit der sprichwörtlichen affenartigen Geschwindigkeit gegrapscht und untersuchte sie auf eventuelle Genießbarkeit hin. Daher gab es auch nur eine kurze Verfolgungsjagd. Sie schmeckte ihm nicht.
Ansonsten: am Polizeirevier steht eine Skulptur, die einen Polizisten zeigt, der seine rechte Hand liebevoll väterlich auf dem Kopf eines kleinen Mädchens ruhen lässt, während er mit seiner Linken der Göre eine Ohrfeige verabreicht. Der Titel dieses Kunstwerks von der lehrhaften Sorte: "Duty and Love" also Pflicht und Liebe, und zwar in dieser Reihenfolge. Die ganze abendländische Kultur basiert auf diesem zynischen Unsinn. Dem Zögling wird beizeiten eingebläut, dass Gott zu fürchten und zu lieben sei, und sein irdischer Stellvertreter selbstverständlich dich liebt, wenn er dir eine reinsemmelt. Er tut das bloß für dich, und ihm tut das sogar noch mehr weh als dir...usw.
Shimla ist im übrigen so recht eine Allegorie des Affenfelsens, auf dem so dahingelebt wird. In der neogotischen Kirche am Beginn der Mall sind die ersten beiden Bankreihen links und rechts dem Viceroy reserviert, dahinter hat gleich der Commander in Chief seine Besitz-/Revieranspüche per Metallplättchen markiert. Darunter mag sich tummeln und drängeln, was Lust dazu hat.
Die Glasfenster mit den Allegorien von Glaube, Liebe, Hoffnung, Barmherzigkeit, Stärke, Geduld und Demut sehen allesamt gleich aus, nämlich wie schwindsüchtige höhere Töchter, von einem Präraffaeliten gemalt. Recht betrachtet ist das ja wirklich alles das selbe: Ertragen der freiwilligen Selbstauslöschung im Hinblick auf....

Nachts:
Die bloße Vorstellung einer Einheit genügt, um eine religiöse Modellierung welcher Art auch immer an sich selbst oder an anderen vorzunehmen. Der elementare moralische Gedanke“ Du bist Teil eines unhintergehbaren Ganzen“ lugt aus jeder fadenscheinigen Religion hervor.
Buddhismus: die von poetischem Gestrüpp gereinigte Fassung davon. Hinduismus: die dem Schein nach vielen Götter reduzieren sich als Inkarnationen
-erstens stark, und
-zweitens auf das eine Dharma des einen Brahma.

Fr. 19 Okt. > Dehra Doon > Mussoorie
Auf solchen elend langen Fahrten fällt man irgendwie in Trance. Kann mir sonst die meditative Grundstimmung schlecht erklären. Die Ebene geizt mit landschaftlichen Reizen. Aber die Natur mit ihrem Einfallsreichtum ist ab und zu schon ein Augenöffner. Hier gibt es klosettdeckelgroße Blätter an Bäumen, und 30-50 cm lange, daumenbreite Würste hängen im Baumgeblätter.
Die häufigste Frage, die man in den Bussen und an den Rastplätzen zu hören bekommt, ist: „Which country/land (sic!) do you belong to? Und da sage noch einer, der Nationalismus sei nicht die Religion des modernen Staats. Mutter Indien ist hier das Substrat, dem man (an)gehört. Sie ist das Eine, das du nicht bist, aber von dem du ein Teil bist. Es stimmt also gar nicht, dass hier alles unstrukturiert ist und lauter Unfokussierte herumstolpern. Der Staat hinterlässt eben seine Einschreibungen in jedem Gehirn.

Nachts:
Der Hinduismus kennt kein Glaubensbekenntnis. Das macht ihn sympathisch. Man vergleiche damit die „Auferstehung im Fleische“, also leibhaftig. Na, das wird ein Gedrängel geben, dereinst beim Jüngsten Gericht! Dagegen ist ja der Reinkarnationsgedanke ein Ausbund von Nachvollziehbarkeit.

Sa. 20. Okt Mussoorie
Eine weitere hillstation der Engländer.Immer wieder in der Ferne die Eisriesen des Himalaya. Und all diese Schönheit geht demnächst mit mir dahin. Schlimmer: es steht zu befürchten, dass alle von mir Wertgeschätzten und durch Sympathie Verbundenen mich hier zurücklassen, und dann habe ich keinen mehr, den ich mit meiner Stimme aus dem Irgendwo berücken könnte.
In meinem „Du“, dem anonymisierten Gegenüber habe ich freilich ein treffliches Mittel, diese Abwesenheit vergessen zu machen. So lange ich spreche, bin ich. Und weiter als zu sICH hat es noch keiner gebracht.
Nachts:
Der mir als Verblendungs-Kritiker sympathische Buddhismus, der die Verhaftetheit an die Welt ebenso wenig mag wie ich Flaneur, der gerade die Flüchtigkeit und das ewige Verschwinden alles Vorübergehenden schätzt, wird im nächsten Wort schon abstoßend. Er liest nämlich Verblendung als Gier. Gier sei die Ursache des allgemeinen Ruins? Das klingt mir doch sehr wie die tautologische Allerweltsweisheit: wer nichts braucht, der nichts bedarf.
Also sprach Zaraistian: Sollte das Leben tatsächlich eines Tages sich nicht mehr nach sich selbst sehnen (Lebensfreude, die sich weiterschenkt), dann macht halt der Letzte das Licht aus.

Mo. 22. Okt. Rishikesh
Bin inzwischen in diesem hinduistischen, spirituellen Supermarkt angekommen. Da wo seinerzeit die Beatles sich ein wenig bei ihrem Guru ausgeruht haben. Es liegt sozusagen im Schoße des Himalaya, da wo zwei Flüsse sich vereinigen (immer ein heiliger Ort für die Hindus) und in die nordindische Ebene hinausfließen. Durch den dadurch entstehenden Wind-Kanal weht ein belebendes Lüftchen.
Ganz anders als in dem 24 km südlich davon gelegenen heißen Haridwar, wo ich gestern war. Dies Haridwar ist eins der ganz großen Hindu-Pilgerzentren. Du kannst dir nicht vorstellen, was da los ist. So viele Leute auf einem Haufen habe ich noch nicht einmal in der Pariser Metro gesehen. Und da ist ganz gewiss toll was los.
Auf Stufenanlagen lagern da die Pilger und steigen zu einem Ganzkörperbad in den eisigen Ganges. Weil der da noch ziemlich reißend ist, gibt es Ketten, an denen man sich festhält.
Ich habe ahnungslos meine be-sandalten Füße in der Mutter Ganga gekühlt.Da waren aber die Hindus sehr dagegen. Oder betritt unsereiner etwa die Mutter mit Schuhen? Na bitte.

Morgens ging es von Mussoorie zum 34 km südlich davon gelegenen Dehra Dun in endlosen Kehren abwärts. Der Fahrer fuhr derartig ruppig, dass vorne rechts eine junge Frau den Kopf aus dem Bus hielt, um das irgendwie störende Frühstück loszuwerden. Es dauert nicht lange, dann trennt sich auch die Mutter vor mir von allem überflüssigen Mageninhalt. Und jetzt ist ihr Kleines mit der roten Bommelmütze dran!
-Uuuaaargh!
Hält das Bündel Menschlein beim ersten, eindeutig sich anhörenden Grummeln einfach aus dem Fenster, und fertig.
Und wo ist hier die Pointe?!
Gibt´s nicht. Das Leben hat auch keine.
Für die Praktiker unter uns sei jedoch scheinheilig eine Moral der Geschicht’ angehängt: das Fenster neben dir immer schön geschlossen halten! Sonst zieht es das da vorne Rausgeworfene magisch zu dir wieder rein.
Kleines Scharmützel mit dem Busschaffner. Wir mögen uns von Anfang an nicht. Ich sitze wie gewohnt und häufig gleich neben der Bustür rechts. Ihm passt das nicht und er weist mich mit meinem Gepäck barsch anderswohin. Will 28 Rupien. Ich gebe ihm 100. Und warte auf das Wechselgeld.
Nach 10 Minuten rühre ich mich: "What about my change?"
- „One minute.“
Ich warte 5 Minuten.
- “I' m still waiting for my change.”
- „....’“ .
Als er sich in seine Wolldecke hüllen will (gegen den Luftzug in diesen klapprigen, in verschiedenen Stadien des Verfalls befindlichen Bussen sehr nötig) werde ich laut und erkläre brüllend, dass ich ihm 100 Rupien gegeben habe und nun 72 zurück haben will.
Das erweckt allgemeine Aufmerksamkeit. Denn wenn einer nichts kann und weiß, die englischen Zahlen haben sie alle drauf.

Im nächsten Bus habe ich dann aber verloren. Der war härter als ich.
Indische Verhältnisse!
Das fängt schon morgens in Haridwar gut an. Der Zug soll 6 Uhr 45 los. Ist aber erst 7 Uhr 20 erstmals gesichtet worden. Die -zig Schläfer auf dem Steinfussboden des Bahngebäudes schütteln jetzt langsam aber mit Nachdruck ihre Decken aus. Seither beisst es mich mal hier, mal da. Und ich entdecke mit Entsetzen, dass ich das selbe tue wie der Affe da drüben: mich kratzen.
Überhaupt diese possierlichen Affen. Denen kann man stundenlang zuschauen. Sie sind einfach die Parodie all unserer Verhaltensweisen aus dem äffischen Erbe.
Das zankt sich mit einer Kuh und einem verzweifelten Unglückswurm um den Inhalt seiner geplatzten Tüte gerösteten Reises als wäre gerade mal wieder eine Tarifrunde.
Das besteigt unerlaubterweise eine ihm nicht zustehende Haremsdame, geht aber elegant und eilig flitzen, als das beim Haremsbesitzer übel vermerkt wird. Rauf auf die Peitschenlampe und von da auf halber Höhe – haste nicht gesehen! - auf den Zug. Habe auch einen Affen mit einem blauen Auge (Veilchen!) gesehen.
Und wenn so einer ganz ruhig dasitzt und vor sich hinsinnt, da ist er doch das Urbild von Weisheit und Verständigkeit.
Die Bahnfahrt selber in der "Holzklasse" hat dann 1und eine halbe Stunde gedauert. Habe dabei die meiste Zeit an der offenen Tür gestanden, weil die Sicht auf den Dschungel da draußen umfassender war, und der Latrinengestank vom Fahrtwind praktischerweise verweht wurde.

Nachts:
Die schöne Schrift der Inder hat einen mich - mit seiner tiefen Wahrheit - entzückenden Namen:Devanagari. In seine Bestandteile zerlegt bedeutet das: Stadt der Götter.
Die Sprache der heiligen Bücher ist jeder täglichen praktischen Zwecksetzung so weit entrückt, dass ihre geheimnisvolle Verschriftung nur eine Botschaft aus einem ganz Anderen, dem Jenseits, sein kann.

23. Okt. Rishikesh
In Rishikesh mit seinen vielen Ashrams (Lebens-, Arbeits- und Besinnungsstätte eines Gurus und seiner Gemeinde. Zahlende Besucher willkommen.) laufen die Europäer im gemessenen Wandelschritt, grußlos wie die Kühe aneinander vorbei, mit einem bescheuert selbstzufriedenen Lächeln. Als hätte man ihnen gerade verraten, dass sie eigentlich Königskinder seien, was sie aber keinem verraten dürften. Das müsse ihr Geheimnis bleiben.
Klar, dass die gerade von ihrem Guru (spiritueller Lehrer) kommen, wo man in Meditationskursen für viel Geld lernt, wie man im Sitzen schläft, oder einem Yogakurs, wo man so seltsame Fertigkeiten beigebogen bekommt wie : die Beine hinten auf dem Rücken verschränken, oder sich mit gespreizten Knien nach hinten beugen und unterm Hintern weg dazwischen her nach vorne gucken. Es soll aber noch mehr dahinter stecken.
Andere Tricks, den Leuten Bedürfnisse zu schaffen, die dann eilfertig bedient werden, sind etwa: dir auf die Füße zu treten nachdem die Schuhsohle des Attentäters kräftig im Kuhfladen gerührt hat, um dir dann die Dienste eines Schuhputzers anzudienen.
Erinnert mich diese Technik stark an die Methode eines gewissen amerikanischen Politikers: erst steckt er dir die Hütte über dem Kopf lichterloh an, und schon bist du froh, wenn derselbe sich dir als Feuerwehr präsentiert.
Auf der Laxmanjhula-Brücke , einer schmalen Hängebrücke, fiel mir der vollgefressene Mittelstand mit seinen vorübergehend spindeldürren Töchtern im Anhang auf. Besorgniserregend meine Rapportlosigkeit gegenüber „der Inderin“. Bin ich schon so alt und abgeklärt? Aber diese knochigen Hände, die wie große Spinnen an den zerbrechlichen Ärmchen hängen, sind auch zu hässlich. Beruhigend andererseits, dass ich „den Inder“ öfter mal sehr hübsch finde und lieber mit ihm als mit seiner Schwester mir was anfangen würde.
Komisch auch sonst dieses Indien: keine Socken in den Schuhen, die schieben ihre behäuteten Knochen einfach so in den Schuh, aber ein Handy am Ohr muss sein.

Nachts:
Ziel des Buddhismus: Unverwundbarkeit in der Sphäre, die nun wirklich jeder in der Hand hat, weil dort der sonst überall sich einbrennende Herr nicht hinreicht: das weltlose Innen und seine souveräne Verfügung über sich selbst.
Sein Stil: das Ethos des reinen Denkens, d.h. des von jeglicher Restwelt gereinigten Denkens. Diese absonderliche Leistung der Subjektivität hat von der Stoa bis zum KZ-Insassen noch jeder Knecht zustandegebracht. Das erklärt auch die Hilflosigkeit des Buddhismus in weltlichen Dingen. Übrigens vertut er sich schon wieder gewaltig beim nächsten „Grundübel“, dem des Hasses, der unter anderem so respektable Kunstwerke wie Swifts Satiren hervorgebracht hat. Die kulturell kanalisierte Aggression ist geradezu der Motor abendländischer Geschichte. Auf die notorische Unfähigkeit Indiens, Geschichte überhaupt zu denken, braucht es sich wahrlich nichts einzubilden.

Nachts:
Das allgegenwärtige Bronzesymbol von „Shivas Tanz im Flammenkreis“: endlose Veränderung des immer mit sich selbst Identischen, Selben, in der Zeit. Eine sehr viel poetischere Fassung der bekannten Oma-Weisheit „Das war schon immer so“. Wenn die Leute anfingen, über Das, worüber sie gerade nicht nachzudenken gewillt sind, sondern lieber über Das ein nichtiges All-Urteil abgeben, sich Gedanken machten, wäre die Welt gerettet.

24. Okt. Rishikesh
Ich hatte es nicht darauf angelegt, aber es war irgendwie schon damit zu rechnen, dass ich bei meiner Rumstromerei auch mal in die Elendsviertel gerate. So heute morgen, als ich dem Gangesufer folgend an einen ausgetrockneten Nebenflussarm geriet, in dem Leute Kieselsteine nach der Größe sortierten. Am Uferrand dann die aus Abfall und Müll zusammengeschusterten Quartiere. Ich kann da nur sagen:
Hallo, Freiheitsfreunde der westlichen freien Weltfreiheit! Freiheit ohne irgendwelche Mittel riecht von einem bis zum anderen Ende nach Scheiße. Buchstäblich.
Und da keimt in mir schon eine - ich nenne das mal - gesunde Wut auf bei dem Gedanken an die beschäftigungslosen Akademikerinnen, die, um sich schön vorkommen zu dürfen, Geld sammeln, damit die arme Dritte Welt das Lesen lernt. Na dann wird' s ja wohl werden, wenn jedes dieser armen Schweine dermaleinst seinen Arbeitsvertrag lesen kann und den Lohnzettel, falls er denn jemals eine Arbeit kriegen sollte. Seine Arbeitgeber, falls er so was Kostbares auftreiben kann, können nämlich schon lesen, und seine Pfaffen auch, und die Politiker erst recht.
Die andere mir verhasste Sorte von Wohltäterinnen aus Akademikerkreisen steht auf "Amnesty International" Da soll man Unterschriftenlisten füllen für Petitionen, damit ein abgeräumter politisch Unliebsamer wieder aus dem Gefängnis raus darf. So was bringt' s echt. Der einzige indische Politiker, der so etwas wie ein soziales Anliegen durchzufechten schien, Laloo Prasad Yadav, erwies sich nach der Wahl, also bei seiner tatsächlichen Amtswaltung, noch korrupter als das übrige Politiker-Gesindel.

Eine Wahrheit über mich ist, ich hasse alle Pundits, Brahmanen und ihre neuzeitlichen professionellen Nachfahren. Die haben das sehr schnell herausgefunden. Seither verachten wir uns gegenseitig mit aller gebührenden Hochachtung, wir Heuchler.

Und hier noch ein aufgeschnappter kleiner Dialog, weil der in meine ausufernden “Definitionen und Aphorismen zur Lebens-Unweisheit“ gehört:
Inder zu Amerikanerin: "...and then I went to Las Vegas."
Amerikanerin zu Inder: " Oh, so you have seen God!"
Der angeberische Inder hat den Witz - seinem Gesicht nach zu urteilen - gar nicht verstanden.
Und außerdem ist das - recht bedacht - überhaupt keiner, denn ich lese hier mehrfach an Schulwänden: Work is worship. Arbeit aber gibt es nun mal nur im Namen des Dollars. Und was steht auf dem Dollar? "We trust in God".
Unterschrift, der Bundesbankpräsident.
So spake
Krish Tian, der Unweise

25. Okt Uttarkashi
Als Reisekumpel hatte ich einen jungen Amerikaner aus Oregon. Wir interessierten uns für die selben Bücher und Filme. Außerdem gehörte er zu den 50 % jener Amerikaner, die Bush nicht gewählt haben. Da verging die Zeit wie im Fluge. Habe kaum was von der Landschaft mitbekommen. Dafür die Entdeckung gemacht, dass es keinen amerikanischen Proust gibt, und einen amerikanischen Dostojewski erst recht nicht.
Statt des psychologischen Realismus hervorragende Täterliteratur mit moralischen Problemen.
In aller amerikanischen Genreliteratur gibt es wohl auch trouble, aber dafür hat man schließlich seinetroubleshooter.

26. Okt. Gangotri In Gangotri waren alle Treks gesperrt. Grund: eine Gruppe von den mir allmählich ziemlich verhassten neureichen Russen hat sich ohne Permit und ohne Guide an dem sehr schwierigen KALINDI - Pass verhauen und drei Tote produziert. Von dem losgeschickten Suchtrupp sind auch noch welche vermisst. Da hatte es den Indern gereicht und sie haben bis kommenden April alles gesperrt.
Und der heutige Tag?
Es gab natürlich viel frische Luft und großartigen Gebirgs-Szenerien. Aber der hinter mir im Bus holte sich alle zwei Minuten ein Quantum aus der Lunge und düngte damit den Himalaya, während wir nur zentimetergenau an hauerartigen Felszacken vorbeisausten.
-Chchrrrkt.-Ptui!
Da lernte ich die hässlichere Seite an mir kennen. O Krishna, lass ihn sich den Schädel an den Felszähnen einschlagen!
Das andere Ungemach rührte von einer dicken Wade, die sich mir, dem neben der Bustür Sitzenden, jetzt, und jetzt schon wieder warm aufdrängte. Übrigens benutzten Einsteigende zudem mein Knie ungeniert als Steighilfe.
-Drück. -Drück.
O Krishna, tu jetzt was, sonst setzt es was!
-Chchrrrkt.-Ptui!
-Drück.-Drück.
Hare, Hare, Krishna!
Lass diesen Teil von Indien,
für mich mal kurz verschwindien.
Und siehe da! Der Anschmiegsame fuhr nicht ganz bis Uttarkashi mit. Muss gelegentlich mal über das Verhältnis von Gebet und Zufall nachdenken. Oder auch nicht.
-Chchrrrkt.- Ptui!

Die Triefnase habe ich mir wahrscheinlich auf dem letzten Trek bei einem abendlichen "Aarti"(Hinduistischer Gottesdienst mit Socken auf kaltem Stein) in einem Tempelchen am Dodital geholt. Zwar hat der Mönch mir für himmlischen Beistand ein rotes Bändchen ans rechte Handgelenk gezwirbelt, aber Shivas Schutz hat wohl versagt.

Kann aber auch sein, dass mein Körper es gar nicht mag, wenn die Zwiebeln für mein Omelette auf der Sitzfläche eines Stuhls geschnitzelt wurden. Phantasien angesichts der - durch Sauberkeit nicht gerade hervorstechenden - Hosenböden ringsum verbieten sich: das wird ja alles kräftig erhitzt!
Hatte ab 3000 Höhenmetern wie üblich mit dem inneren Schweinehund zu kämpfen. Habe ihm gesagt, er solle doch gefälligst die Schnauze halten. War schwer beleidigt, denn im Grunde hatte er ja recht. Der Tag scheint mir nicht mehr fern, an dem auch ich ihm recht gebe.
- Du lässt nach, alter Sack.
- Das will ich nicht gehört haben.
- Antiker Sack?
- Schon besser.

Wenn ich nix mehr von den kleinen Hausgenossen schreibe, heißt das nicht, dass die freiwillig die Untermiete aufgegeben hätten. Nach wie vor behause und verköstige ich eine kleine Kolonie von Flöhen, die meinen Körper bewandern auf der Suche nach sicheren und leichteren Bohrstellen.

Heute morgen lagerte eine Kuh quer über der Fahrbahn. Die Kehle von einer Grosskatze aufgerissen und auf die Brust niederblutend. Sie schien geduldig auf Hilfe zu warten. Da kann sie in Indien lange warten. So heilig sie auch sein mag. Hier ist jeder selber mit Überleben vollauf beschäftigt.

Flohbericht: derzeit keine neuen Einstiche.
Vorgestern noch machte sich die agile Truppe an meinem linken Oberschenkel ein Fest, gestern war sie schon an der rechten Kniekehle zugange, und jetzt so gar nix. Entweder die sind an einem Ort zurückgeblieben, wo es ihnen besser gefällt, oder die hängen in einer gemütlichen Kuhle meines Körpers herum und stöhnen über ihre prallen Bäuche.

Auf dem Rückweg aus dem Ganges-Tal noch mal lange Blicke auf den Himalaya. Unten der zum See gestaute Ganges, darüber die steilen Terrassenfelder und noch eins drauf:die Schneeriesen. Das macht was. Und da will ich gar nicht so genau wissen was. Unschädlichen Irrationalismus wie diesen kann man sich ruhig leisten. Es sind einfach die Formen mit einem undefinierbaren, vielmehr nicht definitionsbedürftigen Überschuss, die es einem antun.

Indien 1

Mi. 10. Okt, Fahrt nach McLeod Gunj

Heute nach Osten zur Zuflucht des Dalai Lama und der seiner exilierten Tibeter. Bin also aus der Gefahrenzone raus.
Habe aber eine Evangeline (Ärztin aus Washington, D. C, 50 Jahre) auf dem Hals, die heilfroh ist, mal ein weißes Gesicht zu sehen, und entsprechend freimütig Selbstdarstellung betreibt. Empörend, wo für so was doch ich zuständig bin!
Erste Verluste sind zu beklagen: ein Vliesshandtuch und meine Ruhe sind dahin. Sage also keiner, ich hinterließe keine Spuren. Bei meiner Verlustrate hat gar mancher in der 3.Welt durchaus Anlass, sich meiner als eines Wohltäters zu erinnern.
Evangeline ist das Inbild des apolitischen Amerika, das keine Theorie über nix hat, und jegliche Mediennutzung schon vor Jahren aufgegeben hat. Sie hat diesen selbstgewählten Lebenszuschnitt auf die in ihrer Prägnanz unschlagbare Formel gebracht: „If it’s important, they’ll tell me.“
Man hat sich nicht für die Bedingungen zu interessieren, nach denen man antreten gemacht wird, man genügt ihnen halt und „stellt sich jeder Herausforderung“, von der man gesagt kriegt, dass sie jetzt angesagt wäre.
Früher war die hierherum mal unter dem Etikett „The white man’s burden“ im Umlauf. Wenn der bebürdete Zivilisierer sich aufopfert, und die Einheimischen/ Kolonisierten/ Zöglinge/ Proleten/ Kaffern/ Aborigines/ der white trash gar nicht begreifen wollen, was man da alles für sie tut, kostet das regelmäßig viele Opfer.
Nicht auf Seiten der Weißen Anglo-Sächsischen Protestanten.

Nachts:
Der gut Angepasste sieht nichts mehr, der Außenseiter ist schlecht im Zuhören. So kommen sie beide gut durch.

Do. 11. Okt. Mc Leod Gunj
Es bleibt nicht aus, dass man bei einer Fahrt durch einen Gürtel angespanntester Spiritualität über die so verschiedenartig sich anpreisende ins Grübeln gerät. Zeit genug hat man ja. Und die Spiritusheimer sind schon arg aufdringlich in ihrer Unüberseh- und Unüberhörbarkeit.
Das reicht vom Schock beim geballten Anblick von Tschador/ Burqa -Trägerinnen: Krähen in Menschengestalt, über die morgendliche Konkurrenz der Hähne des Propheten bis zu den Onkels und Tanten auf dem Nirwana - Trail, die für sich selber in ihrem Hier und Jetzt Reklame laufen: einverständige Versteinendigte, halt Gehirnsklerotiker mit dem ganz großen Hinterblick.
Da trifft es sich gut, die Großen im vollen Schwung ihrer Hinterblickerei beobachten zu können. In einem Schaufenster wirbt mitten in einer Hochburg des Buddhismus der Hinduismus mit einem Zitat seines ideellen Aushängeschilds, Gandhi: „I would rather have India resort to arms in order to defend her honour than that she should in a cowardly manner become or remain a helpless witness to her own dishonour.“ (Mahatma Gandhi, die “Große Seele”) Soviel zum Pazifismus, Nationalismus, Patriotismus in Knäuelform.
Und das Schicksal der Tibeter? Rührt es dich denn gar nicht?
Das Schicksal der Tibeter ist das eines Spielballs der Imperialismen, und ihres Opportunismus, den die sich leisten können. Angesichts dessen enttäuscht die überwältigende Simplizität des Dalai Lama: Liebe, Mitleid, Vergebung. Als ob wir alle nicht irgendwann sogar unseren Eltern vergeben, weil wir in ihnen unsere eigene Qual wiedererkennen und anfangen, sie zu lieben.
UND SONST WAR NICHTS?
Man kann sich entscheiden. Muß aber nicht. Entweder man lebt kontrafaktisch, einer wohltuenden Einbildung ergeben (welche, ist dabei völlig egal), dass Weltjenseitigkeit eigentliche Welterkenntnis sei, oder man stänkert kräftig am Unaufgeräumten herum. Gilt heute eher als pubertäre Wallung. Denn es ist - nicht wahr? - die Konsensfähigkeit, an der sich die Tiefe der menschlichen Reife zeigt.
Soll nicht heißen, dass ich die Tour meiner Antipoden, die sich lieber mit den „Gegebenheiten“ ins Benehmen setzen, mit irgendwas überbieten könnte. Aber, wer Wissen und die Schleichwege der Kunst weghat, der hat darin seine Bindungen, die ihn stillen. Wer keines von beiden hat, der habe Religion.

Nachts:
Der Bildungsspießer zieht seine Überschreitungsstiefel an, hält Gedankenlosigkeit für einen guten Ausgangspunkt zur Transgression und fragt sich morgens vor dem Spiegel: „Wie auch heute wieder für nichts in der Sache zuständig, aber verantwortlich für alles sein?“

12.10. Nachtfahrt nach Manali
So eine 10-stündige Nachtfahrt auf indischen Strassen hat es in sich. Die Straßenverkehrsordnung zählt hier nämlich zur rein fiktionalen Literatur, ist also vergleichbar einem Buch mit Sagen und Legenden, deren Bezug zur Realität auch nur einer vom Hörensagen ist. Der Stellenwert solcher Bücher entspricht dem eines Gerüchtes, wenn es gut geht. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem dort Gedruckten und der harten Praxis liegen ausschließlich darin, dass beide etwas mit dem Geschehen auf der Strasse zu tun haben. Grundsätzlich gehört die Strasse in ihrer vollen Breite dem, der gerade darauf fährt und vorne ist, und zwar schön mittig. Im letzten Sekundenbruchteil entscheidet sich dann ganz situativ wie Überleben und kreativer Fahrstil miteinander zusammenhängen, denn der Praktiker in seinen täglichen Gepflogenheiten weiß das besser als irgendwelche ahnungslosen Verordnungen, die von irgendwelchen Leuten geschrieben werden, die halt gerne schreiben. Der Inder ist da tolerant. Sollen sie.
Eine leere, von Fahrzeugen nicht okkupierte Stelle im Mahlstrom des Verkehrs ist ein Unding, das schleunigst aus der Welt geschafft gehört, und zwar von allen Beteiligten zugleich. Warum das da nicht dauernd zu unschönen Resultaten führt, siehe oben unter:... im letzten Sekundenbruchteil...
Es kommen dir natürlich auch auf deiner Fahrbahn Motorroller entgegen und Falschparker queren von vorne deine Bahn. Erwarte immer das gänzlich Unerwartete, sonst bist du geliefert.
Indien erleben kann jeder. Indien überleben, das ist mit viel Glück verbunden. Ich will eigentlich gar nicht sehen, was der da vorne macht. Setze mich also im Bus doch etwas mehr in die Mitte.

Nachts:
Ich: der Stachel gegen die aufgedrungene Praxis. Ich-Losigkeit: der wilde Entschluss, sich in Abhängigkeit von einem Es zu begeben. Und dieses Eine und Einzige hat mehr denn tausend Namen.

Sa. 13.Okt. Manali
Bin trotz allem heil in Manali im wunderschönen Kullu-Tal angekommen. Morgens um Viertel vor 5:00 Uhr.
Eine Straße wie in Deutschland die gepflügten und winterlich vereisten Äcker. Mit großen Brocken Gestein drin. An Schlafen war nicht zu denken. Meine Innereien wurden ordentlich durchgerüttelt. Die Nieren konnten sich erstmals aus der Nähe besehen, wurden aber wieder vom auf und ab hüpfenden Magen getrennt. Und die Leber schaute kurz vorbei und sagte zwischenrein mal „Guten Tag“ beim Herzen.
Ist Klasse hier, in einem sonnigen, fruchtbaren Tal mit dem schneebedeckten Himalaya im Hintergrund. Die Dächer rotgolden vom zum Trocknen ausgelegten Mais.
Eindrucksvoll die alten Pagodentempel hier im Tal, in denen zum Teil noch sehr lange Menschenopfer dargebracht wurden. Irgendwie erschauert man gedankenlos beim Geräusch „Menschenopfer“. Vergleicht man aber die Katakomben, die dem Moloch des modernen Staats auf dem Altar des Vaterlands geschlachtet werden, mit der gelegentlich anstehenden Versöhnung der ungünstig gestimmten Gottheit durch die Hingabe des höchsten Guts, nämlich EINes Menschenlebens, gerät das Weltbild des abgeklärten Staatsbürgers zwar nicht ins Wanken. Aber es wäre mir doch lieber, er finge endlich an, selber zu denken.

Nachts:
Der Schönheit verzeiht man, was der Gedanke, wofür sie steht, verbrochen hat. Wie unterirdisch grottenschlecht muss die Welt sein, dass es so viel Kunst gibt.

So. 14. Okt. Zum Rohtang-Pass (3978m)
Aus den Apfelplantagen geht es in Hochweidengebiet. Glühendes Laubgold vor blauem Himmel, na du weißt schon. Das wird schon seinen Grund haben, warum mir der Herbst die liebste Jahreszeit ist.
Die Pferde schmusen miteinander, die jungen Leute kommen hierher auf ihrer Hochzeitsreise, und Gott hält ein längeres Schläfchen.
Weiter oben wird dann der Kampf gegen die Frostaufbrüche und Bergrutsche als aussichtslos aufgegeben. Nach drei Stunden sind wir endlich oben und schauen nach Norden ins Lahaul: von hier noch 27 Stunden durch den Himalaya nach Leh in Zanskar. Na, das sollen mal die Jüngeren machen. Mir reichen schon die dreie hier.
Dreht man sich um, sieht man um vier Uhr, wo man um 6 Uhr sein wird. Dazwischen wieder diese ausgesetzten Stellen, das ist, wenn der seitliche Blick aus dem Busfenster keinen Straßenrand mehr sieht, sondern der Halt suchende Blick durch leere Luft in sehr tiefe Tiefen stürzt. Gelegentlich kann man das Resultat besichtigen, wenn ein Bus runtergepurzelt ist. Dessen äußere Ausmaße wirken stark reduziert, irgendwie arg gestaucht und von einer Kompaktheit, in der für Fahrgäste einfach kein Platz mehr ist.
Weiter unten bricht abermals unhaltbar die Idylle aus, und macht Gott wieder sein Nickerchen.
Zwar mit angespanntem glutaeus maximus, aber voll dabei. Ob es so was wie Bergseligkeit gibt? Eine sanfte Bewußtseinstrübung, mit der man sehr einverstanden ist.

Di. 16.Okt. Von Manali nach Shimla
Auf dem Weg hierher war' s genau so wie du dir Indien vorstellst: Elefanten, viel größer als im Zoo, weil man direkt daneben steht; Affen am Wegesrand, sich lausend und kreischend; Palmen und mittelmeerische Vegetation. Der National Highway 21 war endlich mal eine Straße wie bei uns eine Bundesstraße mit 60 km - Gebotsschildern. Später dann schroffes Hügelland, über das der Bus tänzelte und allen Winken des Todes mit Verachtung begegnete.
Bin ziemlich groggy von dem gestrigen,11 einhalb-stündigen Ausflug zu einem Hindu- und Sikh-Heiligtum namens Manikaran.
War ganz interessant, aber dieses Indien mit seiner Auffassung über Lebenszeit jagt dich auf die Palme, oder du sagst dir, dass du zu deinem Tod immer noch rechtzeitig zurechtkommst. Unsereiner hat halt bloß ein Leben, und da haben alle entscheidenden und uns wichtigen Dinge erledigt zu werden. Die Seelenwanderer hier haben gleich mehrere, fahren wohl auch deswegen wie die Henker, und verfahren mit meiner Lebenszeit als hätten sie mich dafür fürstlich entlohnt.
Erst mußten wir für die Rückfahrt auf eine Familie eine ganze Stunde warten (Blödheit oder Unverschämtheit? Wegen der Häufigkeit glaube ich letzteres), dann war es plötzlich Nacht, und der Verkehr hatte sich natürlich an einem Flaschenhals wieder mal verknotet, dann musste auf einer mit Fahrzeugen vollgerammelten Firmentankstelle getankt werden usw. Und dabei saß ich auf heißen Kohlen, weil ich morgens meine Hose zum Flicken beim Schneider abgegeben hatte, und wenn der jetzt geschlossen hat, dann stehe ich morgen schön blöd da. Da habe ich ein bezahltes Ticket nach Shimla schon in der Tasche für den Bus um 8 Uhr 15. Der Schneider macht aber erst um 9.00 Uhr auf.
Was tun? Ticket weg schmeißen? Und übermorgen weiterfahren? OH Scheiße! Reise – Alltags – Organisations -Zeugs.
Wie gesagt, entweder du lässt dich auf die Palme jagen, oder du nimmst es mit Gelassenheit.

Nachts:
Funktionalität der Religion: Gefühlsmodellierung. Die meisten der mir bekannten Vergesellschaftungen geben allen Anlass zu destruktiven Gemütsregungen der ihnen Unterworfenen. Die Moralpredigten darüber werden zu leicht durchschaut als boden- und haltloses Rechtfertigungsgerede. Da muss etwas ganz und gar Anderes, Unglaubliches her, um dem Glauben Glaubwürdigkeit zu verleihen. Credo quia absurdum: die Gebärfreudigkeit einer Jungfrau oder ein elefantenköpfiger Gott.

Mi.17. Okt. Shimla
Direkt neben meinem Hotel war ab 2 Uhr bis 5 Uhr morgens der Teufel los. Die Hindus meinten, sie müssten unter Entfaltung von großem rhythmischem Radau eine Erweckungsfeier oder sonst eine "function" abhalten. Ihre elektrisch verstärkte Responsorien-Musicke ist einfach immer das selbe, leider mit Geräusch verbundene, Tamtam.
Flucht zur YMCA (Young Mens Christian Association) 200 Höhenmeter den steilen Abhang über Treppenwege hinauf.

Dieses Shimla ist genau so wuselig wie Kipling das in seinem Roman ‚Kim’ beschreibt.
Die Affen hier halten genau so wenig wie ich, nämlich nix, vom Gewitterregen. Ducken sich unter irgendwelche Überhänge an Gebäuden und schauen verdrossen drein.

Shimla ist das eigentliche Zentrum der englischen Kolonialregierung gewesen, und das sieht man diesem Stück England auf indischem Boden mit seinen Fachwerkbauten und gotischen Kirchen auch an. Nur die darauf herumturnenden Affenhorden sind einheimisch und sorgen für einen surrealistischen touch.
Weil es den großbritannischen Herren von April bis November sogar zum bloßen Regieren in der eigentlichen Hauptstadt des Kolonialreiches zu heiß war, haben sie sich hierher verzogen auf die kühlen 2000 Höhenmeter und haben zum Wohle Englands von hier aus immerhin die Angelegenheiten des fünften Teils der damaligen Menschheit (von Aden auf der Arabischen Halbinsel bis Burma,heute Myanmar) geregelt.
Dem Regierungshaufen stand ein Vizekönig vor, der sich gleich zu Anfang der britischen Herrschaft, also so kurz nach 1850 eine prächtige Residenz im Stil eines schottischen Renaissance-Schlosses bauen ließ. Mit einer pompösen, mit Teakholz aus Burma getäfelten, Eingangshalle und einem Ballsaal (Glitzerlüster aus Belgien), der heute eine Bibliothek für die höheren Studien in den Geisteswissenschaften ist.
Im Museum kriegt man gleich den richtigen Eindruck von diesen Statthaltern. Sie haben prächtige und schwere Faschings-Kostüme mit schweren Klunkern an, damit man gleich sieht, dass die was Besonderes sind. Hört man solche Leute reden, kommt man nämlich keineswegs auf den Einfall, die wären was Besonderes. Auf ihren großartigen Bällen haben die wahrscheinlich über Kricket und die Aktienkurse geplaudert, und die Frauen über die so-was- von-unmögliche Kleidung der Lady Sowieso und die ungerechte Hinauszögerung der längst anstehenden und verdienten Beförderung des Gatten
-Beglückend wie immer die Gärten. Vorwiegend in diesem Goldlackgelbbraun und dem orangegelb der Kapuzinerkresse, und dem Gelb einer puscheligen Blume, die von den Hindus zu Girlanden und Blumenketten verarbeitet werden, um ihre Tempel zu schmücken.
- Enttäuschend wie immer die Eingeborenen, wenn du sie neugierig nach dem Namen eines Baumes fragst, der hier sehr häufig vorkommt. Sie wissen ihn einfach nicht. Und mit einer Mischung aus Selbstrechtfertigung und Empörung hört man öfter: "Aber der stand doch immer schon da!"
Genau. Und weil das immer schon so war, bedarf es keines näheren Hinschauens oder genauerer Untersuchungen. Ein hoffnungsloser Fall, diese Menschheit.
- Erfreulich wie immer hingegen die Affen, die dem Gärtner einen ständigen Guerillakrieg liefern. Kaum ist der wieder weg, stopfen sie sich auch schon mit Blüten und saftigem Klee aus seinen Beeten und Rabatten voll.
Eins der Äffchen musste dauernd niesen. Hatte wohl gestern zu lange draußen im Gewitterregen rumgetobt.

Indien

Where shit meets eternity:India

Mi. 3. Oktober 2007 Delhi
In Delhi erwacht man zu einer Giftgaswolke von allgemeinem Smog und Dieseldunst. Man wirft sich in die brüllende, rauhe Wildnis des Stadtverkehrs. Um dich herum ein Rattenkönig aus Mensch und Metall, der sich in unregelmäßigen Rhythmen abwechselnd entknäuelt und neu formiert, anscheinend nirgendwohin verebbt und auf der selben Stelle wieder hochflutet.
Ganze Familien und halbe Schulklassen teilen sich eine Motor - Rikscha. Ambassador - Taxis kreuzen klassenbewusst durch den Mahlstrom. Riesige, mit Troddeln aus Wolle verzierte Trucks rumpeln und grunzen vorüber. Mit Kotze verschmierte Busse navigieren auf Kamikazekursen herum und schwitzen eine gehaltvolle Sauce aus Armen und Beinen aus. Statt der üblichen Botschaften („Love is fraud“) findet sich ein „Horn Please“ auf der Rückseite der Trucks, von welcher auffordernden Lizenz ohrenbetäubender Gebrauch gemacht wird. Der sound-track von Delhi ist eine chaotische Kakophonie von tiefem Geröhre, dem Stakkato der Hörner, Quietschen im Bereich des hohen C, Melodiebruchstücken unterlegt mit einem Ostinato im Bariton. Es ist als wäre Delhi blind und verließe sich auf ein gehörgestütztes Chauffieren. Mit Ausnahme derer, die auf Mittelstreifen und an Straßenrändern zusammengerollt ihrer nächsten Wiedergeburt entgegenschlafen. Eine streunende Kuh frisst geruhsam Kekse und den dazu gehörigen Karton auf.
Durch dieses Gewühl lenkt der Inder seinen verbeulten Wagen mit dem Finger einer Hand. Mit einem Finger der anderen bohrt er in der Nase, während er mit der dritten Hand sein Handy ans Ohr drückt.
Ausgemergelte Männer hocken zusammen mit ihren Kumpeln auf ihren Fersen. Wenn irgend möglich höher als das Erdenrund. Also etwa auf der Sitzfläche einer Bank, oder einer rostigen Fahrrad-Rikscha.
Abgesehen von diesen Kleinigkeiten ist es 30 Grad warm und Delhi stinkt nach Urin und Scheiße. Ca. 700 000 Haushalte haben keinen Anschluss ans sanitäre Netz.
Ich muss weg hier.

Di., 9. 10. 2007
In einem Heldenlied käme jetzt die erste Strophe, die unseren Liebling kurzentschlossen einen Flug nach Jammu-Kaschmir, also in ein höchst labiles Kriegsgebiet, buchen lässt, weil alle Züge nach Norden ins Ganges-Quellgebiet für die nächsten 5 Tage ausgebucht waren.
Jetzt wo alles gut gegangen ist und vorbei ist, kann ich’s ja beichten, dass die ursprünglich geplante Heldenliedfassung ein übler Hype gewesen wäre. Ich bin vor dem heißen und nach Urin stinkenden Delhi nach Srinagar in Kaschmir geflohen worden und geflogen worden, weil ich einem Schlepper in die Fänge geraten war, und meine Widerstandskraft gegen diesen Kaschmiri auf die Dauer nicht angekommen ist. Der und seinesgleichen akzeptieren einfach kein Nein.
-Welche Hälfte von „No“ verstehen Sie denn nicht?
-Weder N noch O. Sie sind doch hierher gekommen, den Himalaya zu sehen. Haben Sie eben selber gesagt. Na sehen Sie!
So ein Kaschmiri dreht dir aus deinen eigenen Worten den Strick, an dem er dich dann aufhängt.
Der hat mich dann noch auf einem Hausboot eingemietet (ruhige Sache das, sehr nervenschonende Idylle) und mir einen Drei-Tage-Treck in der Nähe von Pahalganj durch die Berge verpasst. War aber soweit alles in Ordnung. Wenn man von dem Preis mal absieht. Noch seine Enkel werden herzlich lachen über den depperten, bleichen Langnasigen, wenn Opa von dem Geschäft erzählt.
In Kaschmir gibt’s eine derart exzessive Militärpräsenz zu bewundern wie ich das in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen habe. Und das will für einen, der mal bei den Landesverteidigern auf der Lohnrolle stand, schon was heißen! Über die abgeernteten Safran- und Reisfelder patrouillieren die Soldaten, auf jedem zweiten Dach hockt einer, auf Friedhöfen und Kreuzungen langweilen sie sich. Kaschmir ist ein Heerlager mit der Bevölkerung als Versorgungsressource.
In der Wildnis hat das aber dann doch nachgelassen. Und die war gar kein bisschen artig, sondern GROOOSSartig. Da gab’s im halbgetrockneten Schlamm Bären- und Schneeleopardenspuren.(Keine Angst, Leute, um Euren lieben Christian, Schneeleoparden gehen nicht auf Menschen.) Es schlägt einem aufs Gemüt, wenn man einen Langur sichtet, der mit einem geschmeidigen Satz über genau den Wildfluss jumpt, in den man noch in diesem Halbsatz und gerade mal ein paar Höhenmeter weiter mit allen Vieren reinplätschert. Du siehst, mit dem Heldenlied will es partout nichts werden.
Es fängt damit an, dass ich mir schon am ersten Morgen beim plötzlichen Aufrichten das Rückgrat verreisse. So entdeckte ich aufs Neue, dass das Alter wirklich nichts für Weich-Eier ist, sondern eine stetig sich erweiternde Sammlung von Handicaps. Also mehr was für Sammler und nix für mich, der ich eher ein Verlierer bin. Nützt mir aber auch nichts. Verliere so nach und nach alle möglichen Selbstverständlichkeiten beim Verfügen über meinen Körper.
Viel frische Luft und unverfälschte Natur. Da lag der aufgedunsene Kadaver eines Mulis. Das hatte ein Leopard in der Nacht gerissen. Jetzt taten ihm die Raben die letzte Ehre an. Fangen bei den Augenhöhlen an, die nach diesem Auftakt aus blutiger Leere nirgendwo mehr hinstarren. Die Raben arbeiten sich dann vom After her in den Leib vor. Weg des geringsten Widerstands. Energieersparnis bei dem kärglichen Nahrungsangebot.
Herbst war’s, und der Gilb schon überall drin. Haschischgärten, Walnussbäume. Da wird mir immer so golden.
Nachts:
Die Redensarten „Das ist kontrovers.“/ „Das ist ein anderer Diskurs.“ fallen unter eine vornehme Form der unbegründeten Zurückweisung wegen Nichtbefassungswürdigkeit. Ein Urteil, das keines ist. Die da glauben, über der Sache zu stehen, stehen gemeinhin beträchtlich unter ihr.

9. Oktober Fahrt nach Jammu

Gestern ein abenteuerlicher Transfer nach Süden auf der einzigen Verbindungsstraße zwischen Nord und Süd, auf der die Äpfel aus Kaschmir nach ganz Indien verfuhrt werden, die Nüsse und Mandeln. 13 Stunden stop and go für 290 Kilometer, Schluchten auf Schluchten nach Jammu.
Bei entsprechendem Lichteinfall sehe ich in der Glasscheibe hinter dem Fahrerhaus in meinem Gesicht eindeutige und definitive Missbilligung. Der Nachbar bohrt mir ungeniert sein Knie unter meine Kniekehle, der Bluterguss in meinem linken Mittelfinger pocht und pocht, der Rücken beschwert sich bei jedem Schlagloch, ein kalter Luftzug streicht permanent über meine Oberschenkel – ich bin nicht gern in dem Kerl, in dem ich hier festsitze.
Jetzt hat der Nachbar sich dazu entschlossen an meiner Schulter zu schlafen. In diesen Bussen ist man eben genau so breit wie man sich macht. Mir wird unmissverständlich klar gemacht, dass ich nicht hier her gehöre. Wenn ich aber nun schon mal da wäre, wüsste der Nachbar guten Gebrauch von mir zu machen. Indien schlägt zu.
Was hier auf die Dauer stattfindet, ist eigentlich kein Warten. Warten ist der falsche Ausdruck. Es geht schlicht um Dasein, ein immerwährendes, in sich kreisendes.
Und wann endet das?
Am Beginn von etwas anderem, genau so vielem Dasein. Das Weltbild des Hindi hat für diese Sichtweise des „Wechsels“ sogar ein eigenes Wort: karnaa = wechseln von einem Zustand in den anderen, und zurück. Man denkt dabei nicht an ein bewirkendes Subjekt wie beim Deutschen „Machen“, obwohl es das ja bedeutet. So wird Licht nicht etwa „gemacht,, sondern es wird - mehr unpersönlich (vom Dunkeln ins) Helle „gewechselt“.

Man stelle sich vor, ich hätte an diesem Tag was vorgehabt, dem ich irgendeine imposante Wichtigkeit beigemessen hätte!
Nachts:
Pascal meint, dass alles Übel dieser Welt davon herrühre, dass die Leute nicht ruhig in ihren Zimmern bleiben könnten.
Dieses Urteil empfiehlt ein ortsfestes, vegetabilisches Ideal, auf das nur einer kommt, der nicht weiß, wo die Brötchen herkommen, mit denen man ihn füttert, der nicht weiß, woher die Bekleidung seiner Rentnerexistenz ihn anfliegt, und wie es zu jenen Häusern kommt, in deren Zimmern zu verrotten höchste Geistigkeit sei.

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