Freitag, 1. Februar 2008

Anatol France: Die Insel der Pinguine


Von einem kurzsichtigen Mönch wurden die Pinguine versehentlich getauft. Es bleibt Gott - wegen gewisser damit verbundener Unstimmigkeiten laut der sich mit ihm befassenden Wissenschaft - gar nichts anderes übrig, als die Pinguine in Menschen zu verwandeln.
Es folgt eine frankreich-fokussierte Menschheitsgeschichte, die mit einer Anzahl gehätschelter Einbildungen über die moralischen Qualifikation dieser Spezies aufräumt.

„An einem Herbstmorgen nun sah der selige Mael, der mit einem Mönch von Yvern, namens Bulloch, das Tal der Clange durchwandelte, über den Weg Rotten von wildscheuen Menschen gehen, die Steine mit sich führten. Und sogleich hörte er von überall Schreie und Klagen aus dem Tal zum ruhigen Himmel dringen. Und er sprach zu Bulloch: ,,Zu meiner Trauer gewahre ich, mein Sohn, daß die Inselbewohner, seit sie Menschen geworden sind, mit geringerer Weisheit handeln denn früher. Als sie Vögel waren, zankten sie sich nur in der Jahreszeit der Liebe. Und jetzt streiten sie immerzu. Sommer und Winter sind sie aufeinander erbost. Wie sehr sind sie von jener friedlichen Hoheit abgefallen, die auf der Versammlung der Pinguine lagerte und sie dem Senat einer weisen Republik ähneln ließ.
Blicke, mein Sohn Bulloch, nach der Surelle hin. Just sind in dem kühlen Tal ein Dutzend Pinguinenmänner beschäftigt, einander mit Spaten und Hacken zusammenzuhauen, mit denen sie besser die Erde aufgraben würden. Doch grausamer noch als die Männer zerreißen die Weiber mit ihren Nägeln das Gesicht der Feinde. Weh, mein Sohn Bulloch, warum morden sie also?"
,,Aus Genossenschaftsgeist, mein Vater, und in Ahnung der Zukunft", erwiderte Bulloch. ,,Denn der Mensch ist seinem Wesen nach ahnungsvoll und gesellig. So ist nun einmal sein Charakter. Ohne eine bestimmte Aneignung von Dingen kann er selbst sich nicht vorstellen. Die Pinguine, die Ihr seht, Meister, eignen sich Ländereien an."
,,Könnten sie das nicht minder gewaltsam tun?" fragte der Greis. ,,Mitten im Kampf tauschen sie Schimpf und Drohung. Ihre Worte kann ich nicht unterscheiden. Dem Ton ist zu entnehmen, daß sie zornig sind."
,,Wechselseitig klagen sie sich des Diebstahls und des Raubes an", erwiderte Bulloch. ,,Dies ist der allgemeine Sinn ihrer Reden."
Da stieß der fromme Mael, die Hände ringend, einen großen Seufzer aus und rief:
,,Siehst du nicht, mein Sohn, diesen Rasenden, der mit den Zähnen die Nase seines hingeschleuderten Gegners zerbeißt, und den dort, der eines Weibes Kopf unter einem riesigen Stein zermalmt!"
,,Ich sehe sie", antwortete Bulloch. ,,Sie schaffen das Recht. Sie gründen das Eigentum. Sie errichten die Prinzipien der Zivilisation, den Unterbau der Gesellschaft, die Grundlagen des Staates."
,,Wieso denn?" fragte der Greis Mael.
,,Indem sie ihre Fluren abgrenzen. Das ist der Ursprung jeder Polizei. Eure Pinguine, Meister, vollziehen die erhabenste Tätigkeit. Ihr Werk wird die Jahrhunderte hindurch von den Gesetzesforschern geweiht, von den Behörden geschützt und bekräftigt werden."
Während der Mönch Bulloch diese Worte sprach, stieg ein großer weißhäutiger, rothaariger Pinguin ins Tal hinab, einen Baumklotz auf der Schulter. Er näherte sich einem kleinen, in der Sonne völlig verbrannten Pinguin, der seinen Lattich bewässerte, und schrie ihn an: ,Dein Feld gehört mir!"
Und als er dieses machtvolle Wort verkündet hatte, hieb er mit seiner Keule auf den Schädel des kleinen Pinguins, der tot niederfiel über den von seinen Händen gepflegten Acker.
Bei diesem Anblick schauderte es den frommen Mael am ganzen Leib, und er vergoß stürzende Tränen.
Und mit einer Stimme, die Grauen und Angst erstickten, sandte er zum Himmel das Gebet:
,,Mein Gott, Herr, der du des jungen Abel Opfer empfangen, der du Kain verflucht hast, räche, o Herr, diesen unschuldigen, auf seinem Felde hingeschlachteten Pinguin und gib dem Mörder deines Armes Wucht zu fühlen! Ist ein Verbrechen hassenswerter, kann etwas deine Gerechtigkeit schwerer beleidigen als dieser Mord und dieser Diebstahl?"
,,Nehmt Euch in acht, mein Vater", sprach Bulloch sänftiglich. ,,Was Ihr Mord und Diebstahl nennt, sind in Wahrheit Krieg und Eroberung, die geheiligten Fundamente der Kaiserreiche, die Quellen aller menschlichen Tugend und Größe. Bedenkt zumal, daß Ihr, wenn Ihr den großen Pinguin tadelt, das Eigentum in seinem Ursprung und in seinem Prinzip angreift. Unschwer kann ich Euch das beweisen. Den Acker pflegen ist ein Ding, den Acker besitzen ein zweites. Und diese beiden Dinge dürfen nicht durcheinandergebracht werden. In Sachen des Eigentums ist das Recht des ersten Besitzers unsicher und schlecht begründet. Das Recht der Eroberung hingegen ruht auf soliden Grundlagen. Es ist allein zu achten, weil es allein sich Achtung erzwingt. Des Eigentums einziger, herrlicher Ursprung ist die Gewalt. Es wird durch Gewalt geboren, durch Gewalt bewahrt. Und so weit ist diese erhaben, sie weicht nur einer Gewalt, die noch größer ist. Deshalb gebührt sich's zu sagen, daß, wer besitzt, edel ist. Und dieser große Rothaarige hat vorhin, indem er einen Ackersmann tötete, um ihm sein Feld zu rauben, auf Erden ein sehr edles Haus begründet. Ich gehe und wünsche ihm Heil." Hierauf näherte Bulloch sich dem großen Pinguin, der an der blutgetränkten Ackerfurche stand und sich auf seine Keule lehnte.
Und Bulloch verneigte sich bis zum Boden und sprach:
,,Herr Greatauk, schrecklicher Fürst, ich habe Euch jetzt als dem Begründer gesetzlicher Macht und erblichen Reichtums gehuldigt. In Euer Feld verscharrt, wird der Schädel des niederen Pinguins, den Ihr erschlagen habt, für immer die geheiligten Rechte Eurer Nachkommenschaft auf diese durch Euch geadelte Erde bezeugen. Heil Euren Söhnen und Eurer Söhne Söhne! Sie werden Greatauk heißen, Herzöge von Skull, und über die Insel Alka gebieten."
Dann erhob er die Stimme und wandte sich zu Mael, dem frommen Greis.
,,Mein Vater, segnet Greatauk! Denn alle Macht kommt von Gott."
Mael blieb unbeweglich, stumm und starrte zum Himmel hinauf, er empfand schmerzlichen Zweifel an der Lehre des Mönches Bulloch. Und doch sollte diese Lehre in den Zeiten der hohen Zivilisation obsiegen. Bulloch kann damit als der Schöpfer des bürgerlichen Rechts in Pinguinien betrachtet werden."

Hier noch eine kleine paradigmatische Parlamentsrede eines FDP lers, die – wie man gleich sehen wird – seit ihrer Aufzeichnung vor nunmehr 100 Jahren nicht geändert zu werden brauchte.

,,O Mael, mein Vater, ich schätze, daß es gerecht ist, wenn jeder zu den öffentlichen Ausgaben und zu den Kosten der Kirche beiträgt. Ich für meine Person will mich zum Wohl meiner pinguinischen Brüder alles dessen entäußern, was ich besitze, und, müßte es sein, so gäbe ich frohen Mutes sogar mein Hemd. Alle Ältesten des Volkes sind wie ich bereit, ihr Hab und Gut zu opfern; und gegen ihre unbedingte Treue zum Vaterland und zum Glauben ist kein Einwand. Wir müssen also nur das öffentliche Wohl erwägen und tun, was es heischt. Nun, mein Vater, es heischt, es fordert, daß man nicht viel von denen verlange, die viel besitzen, denn dann würden die Reichen weniger reich und die Armen noch ärmer. Die Armen leben von der Reichen Gut; deshalb ist dieses Gut geheiligt. Rührt nicht daran; es wäre grundlose Bosheit. Nehmt Ihr von den Reichen, so bringt Euch das keinen großen Nutzen; denn ihrer sind nicht viele. Und Ihr würdet im Gegenteil Euch jede Hilfsquelle versperren und das Land ins Elend senken. Wenn Ihr aber von jeglichem Einwohner einen geringen Beistand verlangt, ohne sein Hab und Gut zu rechnen, so werdet Ihr genug für Euren Bedarf gewinnen, und Ihr braucht Euch nicht nach dem Besitz der Bürger zu erkundigen, die jede Nachforschung dieser Art als hassenswert und lästig betrachten würden. Wenn Ihr jedermann gleichmäßig und leicht besteuert, so schont Ihr die Armen, da Ihr ihnen die Güter der Reichen laßt."

In diesem galligen Parabel - Roman entwirft Anatole France eine apokalyptische Zukunftsvision mit der pessimistischen These, dass die Ungerechtigkeit der Welt nicht abzuschaffen sei und dass auf den Untergang eines korrupten Systems nur eine neue korrupte Ordnung folge, da die Menschen sich darauf versteifen, aus den Fehlern der Vergangenheit nichts zu lernen. Die Geschichte der vermenschlichten Pinguine ist eine von Ironien strotzende, gesellschaftskritische Satire vor allem auf die französische Geschichte und Kultur, ihre Mythen und Selbstmythisierungen, sowie eine dystopische Vision über die Folgen der Gewinnsucht.

Nichts von all dem gefällt mir als Theoretiker.

Als Leser eines großartigen Stilisten und Rationalisten fühle ich Dankbarkeit darüber, dass er und ich, also wir beide schön gemütlich in der Hölle beisammen sitzen und die Sache noch einmal durchgehen werden.

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