Montag, 7. April 2008

Beim Kriegszug gegen die Wut sehe ich rot


Aus gegebenem Anlass:
Die ihres Amtes waltenden Kräfte promoten Glück und dämonisieren seit längerem die Wut.

Ich bin ein verdammter Geissbock, der versucht, die Welt zu ficken, und das ist kein Wunder, denn die versucht das selbe mit mir.”
So klang vor noch gar nicht so langer Zeit Arthur Seaton, der Held von Alan Sillitoe’s Meisterstück aus der Phase der angry – young - men Saturday Night and Sunday Morning (1958). Seaton war ein Londoner Weiberheld auf der Höhe aller urbanen Überlebenskniffe, der tagsüber in einer Fabrik arbeitete und sich nachts stumpf soff, und den Rest seiner Zeit, angefeuert von Wut und Alkohol, sich vergnügliche Sträuße „ mit Müttern und Frauen, Vermietern, Vorgesetzen, Bullen, Armeeheinis und den Regierungsfuzzys“ lieferte.
Heutzutage würde Seaton weggekarrt werden für eine kurze, aber scharfe Dosis von Wut-Management-Therapie. Schon gleich würde er nicht den Ehrentitel eines „ zornigen jungen Mannes“ verliehen bekommen. Man heftete ihm den gelben Stern “Opfer der Wut-Seuche” an, so effektiv wurde mittlerweile die Wut geächtet, oder zumindest ihr ungefilterter Ausdruck davon. Die Emotions-Polizei hat mit Erfolg allem den Krieg erklärt, was nur entfernt nach einem zornigen jungen Mann (oder einer Frau) ähnelt. Das Ziel davon scheint, die Geissböcke in Schafe zu verwandeln und kaum eine Augenbraue war hochgezogen worden, um auf diese heimtückische Campagne geistigen brainwashings zu reagieren. Emotionaler Konformismus und coole Dämpfer sind angesagt und ausgerufen.
Wenn die Fünfziger die ‘Angry Decade’ (so der Titel von Kenneth Allsop’s Studie von 1958 über die Angry Young Men der englischen Literatur) waren, dann sind die 2000er die Anti-Angry-Dekade.

Da mir natürlich wieder keiner glaubt:
Dieser Tage veröffentlichte die UK Mental Health Foundation (MHF) einen Bericht, Boiling Point, der Wut als einen ”Elefanten in der Sphäre der geistigen Gesundheit“ beschreibt. Die MHF behauptet (oder besser „vertrat die Einschätzung“ – behaupten ist sicherlich viel zu heftig) daß Wut, falls man ihr nicht mit einer hilfreichen Behandlung beikäme, den Zusammenbruch von Familien und Irrsinn bedeute.
Die MHF sagt, wir bräuchten eine Armee von wutbewußten Ärzten für Allgemeinmedizin und Gesprächstherapeuten, um das Problem der Wut in der englischen Bevölkerung in den Griff zu kriegen. Das würde in der Tat alle „verdammten Geissböcke“, die auf das Geficktwerden durch die Welt mit einer Konter-Attacke reagieren, ausmerzen.
Es kommt noch schlimmer. Offenbar kann Wut dich killen. Die MHF sagt, daß chronische und intensive Wut „einher gehe mit“ - ah, dieser herrliche Trick der billigsten Dreigroschen-Epidemologie: die Hau-Ruck-Phrase „einher gehe mit“ - Herzerkrankung, Krebs, Schlaganfall, Erkältungen und Influenza, so wie mit Depression, Selbstverletzung und Drogenmißbrauch.
Dies folgt einer amerikanischen Studie von 2004, die besagte, daß “wütende Teenager ihre Gesundheit riskieren” (offenbar haben wütende Teenies einen höheren Body-mass-Index als ihre Gegenstücke, und riskieren zukünftige Herzkrankheiten und Diabetes), und eine Studie aus 2002 belehrt uns, daß ‘ein ungezügeltes Temperament zum Risiko einer vorzeitigen Herzattacke führt. Die Warnung konnte nicht deutlicher sein: werde wütend und schon bist du so gut wie tot.

Da es weit und breit nichts auf dieser Welt gibt, worüber sich aufgeregt gehört, ist jedes Indiz in dieser Richtung unproportioniert, unverantwortlich und illegitim.

Was ich von Leuten halte, die 16 Millionen Amerikanern anhängen, dass sie, statt glücklich darüber zu sein, dass sie Amerikaner sind, an IED (Intermittent Explosive Disorder) leiden, schreibe ich vorsichtshalber nicht hin.
Womit endgültig klar ist, was mit mir los ist: Ich leide an einem Autoritäts-Wut-Syndrom und gehöre zur Therapie in eine Korrektionsanstalt.
Sollte ich mich wütend dagegen sträuben und heftig wehren, weil ich noch unterscheiden kann zwischen vernunftloser Raserei und Missvergnügen bereitenden Anlässen, bestätigt das nur ein weiteres Mal die Diagnose.

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