Samstag, 16. Juni 2007

Leichenpredigten

Meine Mutter wunderte sich immer, daß sie den soeben ins Grab Geredeten am und im Sermon so gar nicht wiedererkennen konnte.

Ich hätte ihr wohl rechtzeitig sagen sollen, daß hier eine Verwendung von Sprache vorliegt, wo die Geräuschproduktion mit dem Gegenstand der Rede nur sehr locker und anlaßweise zusammenhängt. Die Leiche kann sich eh nicht mehr wehren, und überhaupt kann ja wohl der Adressat unmöglich der Verblichene sein, über den da ein Mensch salbadert, der dem schon dezent in Auflösung Begriffenen im Leben nie begegnet ist.
Es geht eben um die Lebenden, denen bei Gelegenheit dieser gesellschaftlichen Unausweichlichkeit der Kanon christlicher Verzichtstugenden ein weiteres Mal eingeschärft werden kann.

Gegen diese Unsitte gilt es sich geistig zu wappnen.

Diese zu enterrierenden Quasi-Heiligen und Ordensträger, von denen man ohne Widerrede sich anhören muß, daß und wie sie den lieben Mitmenschen liebten, haben sich - und damit basta! -
1.den geltenden gesellschaftlichen Verhältnissen zur Verfügung gestellt, sind
2.darüber zu Schaden gekommen, und haben daraus
3. Weisheitslehren gezogen, die einem die Zehennägel nach oben biegen.
Heilige lieben weder den noch die Menschen. Sie hassen sie. Haben Freude daran, sie unentwegt auszurichten. Es gibt überhaupt keinen schärferen Kritiker und umfassenderen Verneiner des Menschelns als den Idealismus des Heiligen.
Die Leichenpredigt ist - wie, wenn nicht gesagt, dann doch so gemeint - nicht die Urform der Lüge, sondern das Verfahren der Mythenbildung in nuce, das so zum Teil der historischen Realität wird.
Wie in der Historiographik wird die Funktion der Geschichtswissenschaft schamlos angedient: Identifikationsmuster
für gesellschaftliche Selbstbilder, stabilisierende Stereotypen, Projektionen bereitzustellen. Die dortigen Schlachten als Wendepunkte der Weltgeschichte sind hier die mäßigen Siege im Überlebenskampf des bürgerlichen Helden.
Der einzige Unterschied: Hier gibt es keinen Kampf ums Deutungsmonopol mehr. Der ist längst entschieden in den instrumentalisierten Interpretationen der jeweiligen Anforderungen ans Menschsein-Heute. Deswegen ist es auch ganz gleichgültig, wer den Leichenprediger gibt.

Man tut gut daran, auch Reiseführer in ihrem Sub-Text als Leichenpredigten zu lesen.
Den Lebenden wird in den steinernen Zeugnissen vergangener Glorie ein Genau-so-weiter zugerufen.
Von da her der leichte Aasgeruch, der mich von Reiterstandbildern und Triumphbögen her anweht.
Bei Kenotaphen muß es sich aber wohl um eine - wenn auch verständliche - Geruchshalluzi-Nation handeln.

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