Sonntag, 24. Juni 2007

Rotkäppchen

Eines Morgens sagte die Mutter zu Rotkäppchen: „Großmutter ist so einsam und so krank. Bringe ihr doch diese zwei alten Pfannkuchen und die Flasche Bier, die dein Vater nicht trinken wollte. Aber steh du nicht wieder stundenlang am Waldteich, um dich darin zu spiegeln.“
Rotkäppchen war noch ganz jung, erst vor kurzem hatten Brüstchen an ihrem Leib zu wachsen und wuchern begonnen. Sie war entzückt davon und fand es eine Sünde, dass man sie in das Dunkel einer Bluse wegschließen musste. Sie führte lange Gespräche mit ihnen ganz als ob es ihre Freundinnen wären.
Sie ordnete ihr rotes Halstuch mit dem weißen Bällchenmuster auf ihrem Kopf und band sie unterm Kinn fest.
Aber ihre Bluse ließ sie offen, damit ihre Brüste mit ihr mitgehen konnten. Dann nahm sie den Korb und ging davon.
„Und paß auf vor dem Wolf!“ rief ihre Mutter ihr noch nach.
Daß sie eigentlich zur Großmutter sollte, hatte sie nicht geradezu unverzüglich vergessen, aber sie dachte, daß dazu immer noch genug Zeit wäre. Jetzt kam es eh schon nicht mehr darauf an, wenn die Pfannkuchen noch ein paar Stunden älter würden. Sie eilte zu dem Teich im Wald, wo sie ihre beste Freundin, ihr Spiegelbild, treffen würde.
Sie guckte sich in dem glatten Wasserspiegel die Augen nach sich aus, und entdeckte erst, dass da jemand dicht bei ihr stand, als der sie ansprach. Sie schrak ziemlich zusammen und wollte wissen, wer er denn sei.
„Ich bin Adriaan Dewolf “, sagte dieser, der sich so heimlich still und leise nähern konnte. „Und Ihr seid sicher Rotkäppchen. Ich habe viel über Euch gehört.“
„Oh “, antwortete Rotkäppchen „und haben Sie auch das Neueste gehört? Ich habe erst neulich Brüste gekriegt. Ich wollte denen gerade in dem Wasserspiegel hier zeigen wie schön sie sind. Aber die sind ja so dumm und blind “, seufzte sie bedauernd.
„Ja, das haben Brüste so an sich“, sagte Adriaan Dewolf. „Sie sind schön aber geradezu sinnlos blind. Wollen wir ein bisschen mit ihnen spielen?“
Wie gern auch Rotkäppchen das getan hätte, ihr fiel die Großmutter ein, die so einsam und so krank war. Am Ende starb die noch, während sie selbst hier in der Zwischenzeit herumspielte.
„Nein, ich muß zur Großmutter“, sagte sie. „Denn es wird gleich dunkel und ich habe Angst vor dem Wolf.“
„Sehe ich denn so gefährlich aus?“ fragte Dewolf.
„Im Dunkeln sind alle Wölfe grau“, antwortete Rotkäppchen mit einem weltweisen Spruch, den sie irgendwo aufgeschnappt hatte.
Dann ging sie davon, ihr rotes Halstuch unter dem Kinn festgezurrt, und ihre Brüste hüpften ihr voraus. Aber da gab es so viel zu sehen im Wald, dass sie nur langsam vorankam. Als sie sich dem Häuschen der Großmutter näherte, war bereits alles geschlossen. Sie trommelte an die Tür und auch an die Fensterläden.
„Großmutter, Ihr seid doch nicht etwa tot?“ fragte sie. Und miteins begriff sie wie blöd so eine Frage ist, denn eine tote Großmutter könnte ja nimmer antworten. Von drinnen wurde aber gerufen, dass sie bloß die Türklinke niederdrücken müsste…
„Ich bin so einsam und so krank und liege bereits zu Bette“, sagte die Großmutter.
Ihre Stimme klang ganz anders als sonst, aber vielleicht ist das mit allen Todkranken so. Rotkäppchen trat ein. Die Lampe brannte, und Großmutter lugte aus ihrem Bett voller Begierde nach ihr. Sie trug wie immer ihre Brille auf der Nase.
„Komm zu mir ins Bett, und bringe die Pfannkuchen und die Flasche Bier mit“, sagte sie.
Rotkäppchen kleidete sich aus, behielt aber das rote Halstuch auf ihrem Kopf auf. Sie war ganz jung und ganz schön, so ohne Kleider. Ihre Brüste waren stolz auf so einem schönen Rotkäppchen zu wachsen. Als sie fühlte wie die Großmutter ihren Leib abtastete, sagte sie: „Aber Großmutter, was habt Ihr für große Hände!“
„Das ist, damit ich dich überall anfassen kann.“
Sie ließ Großmutter gewähren. Es war ein ganz angenehmes Gefühl, andere Hände als die ihrigen über ihren Leib wandern zu fühlen. Die Decke glitt dabei aber beiseite, so dass sie die Großmutter unversehens nackt sah.
„Oh Großmutter“, sagte sie „was habt Ihr denn da?“
„Da ist vor kurzem eine gute Fee gekommen, und die hat mir das gegeben. Die Fee hatte überall nach dir gesucht, denn das war eigentlich für dich gedacht. Soll ich es dir jetzt geben?“
Rotkäppchen zögerte. Um die Wahrheit zu sagen, sie war ein bisschen ängstlich. Das musste nämlich so ein Zauberdings sein, genau wie in dem Märchen von dem Mädchen, das eines Tages damit spielte und ein Kind kriegte.
In ihrer großen Begierde, es dem Rotkäppchen zu geben, verplapperte sich aber die Großmutter…
„Nun komm schon, im Dunkeln sind alle Zauberdinge grau!“ sagte sie ermutigend.
Dadurch jedoch erinnerte sich Rotkäppchen an Adrian Dewolf, der schon am Teich auch solche seltsamen Vorschläge gemacht hatte. Sie guckte sich nun die Großmutter genauer an, rückte ihr die Brille von der Nase und entdeckte, dass das ja Adriaan Dewolf höchstselbst war.
Laut begann sie um Hilfe zu rufen.
Und da der Jäger just in diesem Augenblick vorbeikam, sprang er herein.
„Helft mir“, rief Rotkäppchen „er heißt Adriaan und will mir sein Ding aufschwätzen.“
Als Adriaan flüchten wollte, kam er nicht recht voran, sein Bauch war geschwollen und hing ihm im Wege.
„Höchstwahrscheinlich hat er Großmutter aufgegessen!“ sagte Rotkäppchen, denn ab und zu ging auch ihr ein Licht auf, wie man so sagt.
Um sich davon zu überzeugen, nahm der Jäger sein großes Messer und schnitt den Bauch von Dewolf auf. Und ja, da sahen sie Großmutter liegen, die das ganze Gespräch im Bett mitgehört hatte und – oh oh oh! - nichts dazu sagen konnte. Da wollte der Jäger Dewolf niederschießen, der da mit seinem offenen Bauch bewusstlos dalag.
„Nein“, sagte Rotkäppchen „laßt uns ihn mit Steinen vollstopfen und dann wieder zunähen. Das wird Spaß machen.“
Und nachdem sie das Loch, wo die Großmutter dringesessen hatte, mit dicken Wackersteinen vollgestopft hatten, nähten sie es wieder zu. Das machten sie aber schlampig, bloß so eben mal aufgeriehen, gerade ausreichend dafür, dass die Steine nicht gleich rausfallen würden. Dann rüttelten sie ihn aus seiner Bewusstlosigkeit. Sie hörten die Steine rumpeln.
Die Brüste von Rotkäppchen wippten auf und nieder, als ob sie lachen müssten. Mit den rumpelnden Steinen in seinem Bauch lief Dewolf davon. Er kam aber nicht weit. Nach ein paar Schritten sackte er in sich zusammen und war tot.
„Das soll ihn lehren Großmutter spielen zu wollen!“ sagte Rotkäppchen.
„Und dir sein Zauberding geben zu wollen“, fügte der Jäger hinzu… „Und weißt du was, Rotkäppchen, wenn du das mal bedauern solltest, du kannst ja jederzeit das meine kriegen.“
Rotkäppchen war aber vorläufig nicht darauf aus, mit dergleichen bezaubernden Sachen zu spielen.
Sie begann damit gerade ein Jahr später, als ihre Großmutter bereits gestorben war, und sie keine Pfannkuchen mehr liefern musste.
Aus: Blauwbaardje in wonderland en andere grimmige sprookjes door Louis Paul Boon

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