Sonntag, 29. Juli 2007

Rücksichtslosigkeit

Ich muß zugeben: ich liebe das weblog.

Man braucht wegen des anonymisierten Adressaten keinerlei Rücksicht zu nehmen auf die Reizschwellen, Idiosynkrasien, Handicaps und Hangups des Gegenübers, die eine objektive Lagebeurteilung fast verunmöglichen, weil da immer unter Vorbehalt formuliert zu werden hat, und nicht die Sache selbst sprechen gemacht werden darf.
Diese übliche, aber nicht sehr hilfreiche Selbstunterstellung unter ein wechselseitiges Wohlwollen mag zwar als Kulturtechnik unter netten Leuten eine gewisse Bedeutung haben, aber die Auffassung, dass diese Leute sich in ihrem Handeln von der gestrengen Herrin Tugend leiten ließen, ist schlicht falsch.

Mal den Gedanken ernst genommen, dass das Prizip der Wahrung des fremden Wohls bei der Verfolgung des eigenen tatsächlich das „handlungsleitende Interesse“ bildete, ergäbe sich an der engen Tür zum Sitzungssaal folgende ergötzliche Szene:

„Bitte nach Ihnen…“

„Aber nein, Bitte nach Ihnen..“

„Kommt gar nicht in Frage. Bitte nach Ihnen.“
….
Wir wollen hoffen, dass die Unerbittlichkeit dieses Prinzips nur eine eingebildete ist. Sonst stehen die beiden Turner am Hochreck der tugendhaften Wahrung fremder Interessen nämlich auch heute Nacht noch da, und die Sitzung muß vertagt werden.

Sehen wir das Bild in die Sache hinein verallgemeinert doch mal so:

Warum sollte einer, dem ich Macht über mich gegeben habe, ausgerechnet mein Interesse verfolgen. Den Mann müsste man doch glatt für verrückt erklären.
Daß es so auf der Welt nicht zugeht, illustriert vielleicht gar nicht schlecht folgende Anekdote:

Die völlig verarmte Witwe eines kürzlich kriegeshalber verstorbenen Proviantmeisters kam beim alten Fritz mit der Petition um eine kleine Unterstützung ihrer absoluten Mittellosigkeit ein.
Der Friedrich, der ohne alle Ironie Grosse, lehnte mit der handschriftlichen Begründung ab:
„Ich habe ihn an die Krippe gebunden. Warum hat er nicht gefressen.“
Damit ist der Feudalismus zu Grabe getragen und die Freiheit des modernen Staats, der sich gegen die Ansprüche seiner Untertanen zu wehren weiß, ist aus der Taufe gehoben. Wenigstens schon mal prinzipiell. Näheres regelt dann ein ewig novellierungsbedürftiges Gesetz.
Aus unseren Tagen, die ein weltweites Erblühen dieser grundlegenden Verbindlichkeit erlebt, stammt das lehrreiche Faktum, dass die Italiener ihren erfolgreichen Politgangster Berlusconi zu einem statistisch relevanten Prozentsatz vergöttert haben.
Dem Leser mögen tausend weitere Beispiele einfallen.

Wie das da so steht, ist das schon wieder so ein Ding, das einem was erklärt, also den Grund mit der Sache nennt, was übrigens in akademischen Kreisen verpönt ist, ja geradezu für unmöglich erklärt wird. Ebenso folgenlose sittliche Empörung wäre statt dessen das durchhaus erwünschte Resultat der professionellen Menschenbildnerei.

Es ist nämlich schon lange her, dass am Goethe die Seite seiner prosaischen Realitätszugewandtheit für tradierenswert erachtet wurde:
Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.“

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