Mittwoch, 27. Juni 2007

Fernreisen

„Du warst auf Reisen? Erzähl doch mal.“
„Äh…“
Tja, wo soll ich da beginnen? Ich fühle wie ich innerlich zuklappe. Bilder und Stimmen drängeln sich in meinem Kopf. Ich erlebe alles zur gleichen Zeit. Ich steh im Hotellift mit einem kleinen dicken Mann, der seinen Namen auf dem Revers trägt (Bertie). Ich stehe, zitternd vor Kälte und Emotionen, auf der Fähre nach Staten Island. Voller Angst unter den Zug geschubst zu werden steig ich zur U-Bahn runter. Ich nehme ein überflüssiges Frühstück zu mir mit einem leckeren flauen Kaffee. Ich hänge in einem Jazzclub rum und lausche dem neuesten Saxophontalent, ganz frisch aus dem Hinterland der Vereinigten Staaten angekommen, mit seiner Mutter als Begleitung. Ich laufe durch den Central Park und gucke nach den Schlittschuhläufern auf dem Eis. Ich stehe in der Reihe, um einen Tisch zugewiesen zu bekommen bei O´ Neil´s. Ich sehe den Fluß unter der legendären Brücke durchströmen. Ich sitze in einem Taxi und erfahre genüsslich die schlechte Federung und den höckerigen Asfalt. Ich lasse mir die Schuhe putzen auf dem Times Square und weiß nicht recht, was ich darüber denken soll. Ich ziehe mich mit einem heißen Pastrami - Sandwich in einer Papiertüte auf mein Hotelzimmer zurück und gucke TV mit einer Gier, als ob das Medium gerade erst erfunden worden wäre. Ich…

Da gibt es in den letzten Jahren einen Boom in Reiseerzählungen. Und obwohl ich auch schon mal die Grenzen überschreite, gelingt es mir kaum über meine Reisen was zu erzählen und erst recht nicht, ein vernünftiges Wort darüber zu schreiben. Ich weiß nicht wo ich da anfangen soll. Es ist alles zu wirklich und zu abgerundet. Das existiert doch alles. Das ist doch das schöne Buch von einem anderen, und in der Schule konnte ich auch schon nicht „mit eigenen Worten“ ein Buch nacherzählen.
Kannst du deine Reiseerfahrung nicht in einen Klang verworten, der dem Interessierten mit eins deutlich macht, was du gesehen und erlebt hast?
„Wie war es?“
„Wuuuuahhh!“ Oder: „Elefantastisch!“ Oder: „Saurierastico!“
Vielleicht muß irgendwas übrig bleiben, womit du nichts anfängst. Warum muß denn immerzu alles bis ins letzte aufgedröselt werden?

Aber frag mich mal beispielsweise: „Du warst in Arstobistan, wie? Wie war´s denn da“ und die Chance ist groß, dass ich eine Antwort habe.
„Arstobistan besteht eigentlich vorwiegend aus der Hauptstadt Bedorieviel. Um die Stadt drum herum gibt es etwas Vegetation aus Löwenzahn, Farnen und Fettpflanzen. Das Versteck für die Backentaschenspringmaus. Und was die Stadt selbst betrifft: Wuuuaaaahhh! In Bedorieviel rasseln Tag und Nacht Ziegenwagen über gläserne Brücken. Die Matratzen sind mit Zigarettenfiltern gefüllt. Um drei Uhr Mittags wird es dunkel und gleich wieder hell. Die Armen leben von dem Spatz auf dem Dach und die Reichen von den Tauben in der Hand. Als ich da war wurde Bedoriviel gerade von einer Stabheuschrecken-Seuche heimgesucht. Um sie einzufangen hatte man an jeder Straßenecke Terrarien aufgestellt. Da drehen sie Filme, die ein ganzes Leben lang dauern….“
Und so geht das dann immerzu weiter, wenn du nicht aufpasst.

Aus Remco Camperts Kolumnenband „Eetlezen“

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