Samstag, 8. November 2008

Im schwarzen Herzen

der Finsternis der Zivilisation: Evelyn Waughs „Eine Handvoll Staub“
Motto des Romans:
"And I will show you something different from either
Your shadow at morning striding behind you
Or your shadow at evening rising to meet you;
I will show you fear in a handful of dust.

T. S. Eliot: „The Waste Land“

Im Unterschied zu Joseph Conrads Abgrundspoesie in der Novelle „Heart of Darkness“, die an denunziatorischer Desillusionierung über die Kulturtauglichkeit „des Menschen“ nichts zu wünschen übrig lässt, bekommt das Grauen in diesem Roman stärker sozial konturierte Züge: wenn man lange genau genug hinschaut, wird der erzählte Kasus eines arglosen „socialite“ der fashionablen Welt zum Exemplum einer ganzen Klasse.

Hier des ewigen Bourgeois, der – enttäuscht von seiner rituellen Teilhabe an der Verlässlichkeit des Schicklichen – vor einer ruinös gegen ihn in Stellung gebrachten Scheidung flüchtet, und sich mehr per Zufall auf die Quest nach „der leuchtenden Stadt“ begibt.
Eine hinterhältig witzige Modernisierung des Gralsstoffes, die vom Mythos wie von seinem gesellschaftlichen Substrat nicht viel mehr als die Reminiszenz an dahingegangene Verbindlichkeiten übrig lässt.
Nach einem langen Abstieg aus den Kalmenzonen eines beschaulichen Landjunkerdaseins über die Delirien einer schmerzhaften Orientierungslosigkeit in die Rapportlosigkeit des Wohlerzogenen in einer darauf pfeifenden Umwelt landet der sympathische tumbe Tor irgendwo im Amazonasdschungel und kriecht in der Asche seiner Illusionen.
Gegen ein heimliches Davonlaufen ist die Waffe seines Sklavenhalters, eines mestizischen Analphabeten, auf ihn angelegt.
Und so wird er in diesem bizarren Kontrastarrangement auch morgen wieder auf Wunsch seines hochgerüsteten Herrn den sentimentalen Sozialromantiker Dickens vorlesend zu Gehör bringen.
Übrigens glaubt der Vorleser an Dickens genau so, wie der Pfaffe seines englischen Heimatortes an seine deplazierten Predigten, die er schon vor Jahrzehnten in den fernen indischen Kolonien aufgeschrieben hat, und die sich auf Gegebenheiten, ungefähr 10 000 Meilen weiter weg, beziehen . Seine Zuhörerschaft hat wohl nie erwartet, dass Predigten irgendetwas mit ihrem Leben zu tun haben könnten, und so macht ihr das nicht wirklich was aus.
Damit sind wir beim Begriff dieses faszinierenden Erbrochenen eines nichtswürdigen Renegaten seiner eigenen Klasse: die absolute Beziehungslosigkeit der britischen Upper class zu sich selbst und dem Rest der Welt und die Verheerungen, die das im knisternden Gebälk der Moral anrichtet.
Noch keiner aus der respektablen Reihe der Desillusionsromane seit Balzacs „Verlorenen Illusionen“ hat derartig witzig, destruktiv und sardonisch vom Zusammenhang von Barbarei und Zivilisation in der Führungsschicht der dekadenten englischen Klassengesellschaft und ihren öden Amüsierriten dahergeredet.
Ich gebe nur ein einziges, aber wohl durchschlagendes Beispiel der vom Roman inszenierten Trennung von Vorstellungswelt und sozialer Matrix, nämlich den Schlusssatz der Phase des Deliriums:
- Ambrose (der Diener) verkündete: „Die Stadt ist angerichtet.“
Für diesen Satz allein, der die Sphäre des Erhabenen und die des Trivialen blitzartig in einander stürzen macht, sollte eigentlich ein eigener Preis ausgesetzt werden...

Und zu diesem widerlichen Ekel von einem Autor wäre heute, wo kaum einem mehr der soziale Befund einer machtgeschützten Innerlichkeit etwas sagt, vielleicht doch gerechtigkeitshalber festzuhalten: Ein Mann, der seine Standesgenossen derartig hasst, kann nicht durch und durch schlecht sein.

Aufpassen beim Kaufen! Damit man nicht eine der frühen amerikanischen Druckfassungen zu packen bekommt, die aus Urheberrechtsgründen eine sehr un-europäische Schlussvariante, eben eine amerikanische, mit happy ending aufweisen mussten.

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