Dienstag, 18. November 2008

Autobiographie einer schwarzen Seele.


Paul de Gondi, Cardinal de Retz: Memoiren als ungenierte Rache an den erfolgreicheren Widersachern

Das bisschen Anteil, das ich an den Dingen hatte, von denen die Rede ist, könnte mir vielleicht erlauben, hier mein eigenes Porträt anzufügen; abgesehen davon aber, dass man sich niemals zur Genüge kennt, um ein vernünftiges Bild von sich zu entwerfen, will ich Ihnen gestehen, dass ich eine allzu tiefe Befriedigung darin finde, Ihnen allein und rückhaltlos das Urteil über alles zu überlassen, das mich betreffen mag ;so könnte ich mich nicht dazu verstehen, mir auch nur im Innersten meines Herzens vorab auch nur die Andeutung einer Vorstellung davon zu machen....
( Kardinal Retz: Memoiren)
Etwas Klügeres wird über den wesentlichen Grundsachverhalt im autobiographischen Schreiben nie geschrieben werden können.
Das wird die müßiggängerische Scheißhausparole des sentimentalen „Erkenne dich selbst“ von Leuten, die das Sündenbewusstsein beutelt, nicht aus der Welt schaffen, aber doch vielleicht das Bewusstsein dafür schärfen, dass ein jeder solcher Versuch im dialogischen Raum nichts als die Schöpfung eines „ineffabile“ ist, welche ihre Interpretation durch einen Anderen schon in seine eigene Deutung vorwegnehmend mit einbezieht, ohne sie jedoch festlegen zu können.
Außerdem lernt man aus den Aufzeichnungen dieses Meisterintriganten der Fronde viel über voraussetzungsloses Urteilen: „So entschloß ich mich nach sechs Tagen Überlegung, das Böse mit Absicht zu tun, was sicherlich das größte Verbrechen vor Gott ist, aber vor den Menschen zweifellos das Klügste, was man tun kann."
Ein Mensch, der seine Prinzipien immer nur dann aufgibt, wenn es dem eigenen Vorteil diente, muss uns interessieren. Sein Kampf an der Seite des Adels sieht ihn so lange auf der Seite des „peuple“, bis er es sich für ein Zweckbündnis gefügig gemacht hat, dann wird es ihm zur „populace“. Für die notorischen Volksfreunde der Sozialisten sei hier daran erinnert, dass auch die bürgerliche Revolution nur deswegen bürgerlich heißt, weil nach der Erreichung ihrer Ziele die Bürger sehr schnell das Zweckbündnis mit den hungernden, verlausten, dreckigen Massen vergaßen. Dankbarkeit ist keine politische Kategorie.
Und Verrat mag eine moralische Kategorie sei. Zur politischen wird sie, wenn eine Macht dein Versagen an deinem Leibe abstrafen kann.
Kardinal von Retz hat — obwohl Prälat — nicht nur kein Hehl daraus gemacht, dass er bewusst ein völlig unchristliches, ja moralfreies Leben geführt hat, er sprach zudem selbst in vorgerückten Jahren, als er in der äußeren Lebensführung die Konzessionen des Alters an kirchliche Konventionen machte, ohne jede Bußfertigkeit über die Jahrzehnte seiner erotisch-galanten Abenteuer und seiner zweckbewussten - manche sagen zynischen -Heuchelei.
Retz, zweitgeborener Sohn eines Herzogs, als Knäblein von 10 Jahren bereits tonsuriert, wurde in sechs Sprachen gedrillt und ungefragt zum Kardinal-Erzbischof von Paris gemacht, weil diese Bürde in seiner Familie erblich war. Sein liederliches Leben war wohl zum Teil Auflehnung gegen diese ihm aufgeherrschte Karriere und Trotz gegen die ihm aufgenötigte Verpflichtung zum heilig - mäßigen Einherwandeln.
Er wurde einer der mächtigsten Männer der „Fronde" gegen den Kardinal Mazarin und die Regentin Anna von Österreich, die Mutter Ludwigs XIV. Doch er, die „unkirchlichste Seele, die es gibt" ( er über sich selbst ), war auch Frondeur gegen den christlichen Grundgedanken der erlösungsbedürftigen Erbsünde.
Und diese sehr viel radikalere Frontstellung gab er auch dann nicht auf, als er, nach langem Kampf und noch längerer Verbannung unterlegen, seinen Frieden mit dem jungen König und mit den geltenden Normen priesterlichen Lebens gemacht hatte. Zwar setzte er dann seine Umgebung durch ein Leben der Entsagung in Erstaunen. Aber nichts konnte ihn bewegen, sein bewusst gewähltes Leben von einst zu verwerfen, geschweige denn es zu verleugnen und vor der Nachwelt zu verbergen.
Reue: du urteilst dich am Maßstab deines Gegners ab für etwas, das ohnehin nicht mehr im Verfügungsbereich deines Willens liegt, ist also nur noch das Krümmen des Rückens vor dem Situationsmächtigen.
Deswegen fehlen auch ca. 250 herausgerissene Seiten seiner Sicht der Dinge, die ohnehin erst 1717 erscheinen durfte.
Bemerkenswert:
Retz ist kein genießerischer Selbstbezichtiger wie Rousseau, der in der Selbsterniedrigung schon immer nach der kalkulierten Reaktion darauf schielt.
Der ganze Komplex einer angebotenen traditionsgeleiteten Identität ist ihm einfach gleichgültig. Auch die sonstigen Grundfiguren der Autobiographie (Rechtfertigungsstrategien und Absolutionen) fehlen hier.
Solche Denkform seiner Denkwürdigkeiten sieht sehr nach antik- heroischem Zuschnitt aus. Und der war ja soeben auf den zivilisatorischen Prozess seiner Abschaffung geschickt worden. Wenn in dieser historischen Stunde jeder zum eigenen Nutzen sich jedes anderen bedienen will, muss er ab sofort sich des Wohlwollens der Zentralgewalt versichern. Dazu braucht es keinen Sieg der subjektiven Vernunft über Ihresgleichen. Das ist der Tod der Intrige. Incipit: die „strukturelle Gewalt“.

Darin gleicht er uns, aber ihm fällt – wie Goethe, der wusste: „Der Handelnde hat kein Gewissen.“ - daran nichts Besonderes auf.
So charakterisiert er einen Mann des Rechtes folgendermaßen: Es „fehlte viel daran, dass sein Verstand seinem Mut gleichgekommen wäre. ...ich habe beobachtet, dass er jedes Mal Handlungen nach Leuten und fast nie Leute nach ihren Handlungen beurteilte. Da er im Formelkram des Justizpalastes groß geworden war, kam ihm alles Außergewöhnliche verdächtig vor. Gefährlicheres kann es eigentlich gar nicht geben unter Männern, die in Staatsgeschäften miteinander zu tun haben, wo die gewöhnlichen Regeln ihren Sinn verlieren.“
Das Porträt Richelieus enthält eine gute Portion Selbstcharakteristik: „Sein Wort war er gewohnt zu halten, solange nicht ein überwiegendes Interesse ihn zum Gegenteil vermochte; und auch dann unterließ er nichts, den Schein von Treu und Glauben zu wahren....Für diese Welt besaß er Religion genug...Zum Guten entschloss er sich aus Neigung oder aus Überlegung, solange sein Vorteil ihn nicht zum Bösen trieb, über das er, wenn er es tat, sich keiner Täuschung hingab.“
Wer will, kann natürlich in diesem hohen Vorbild auch die studierenswerten Konturen eines an der Antike geschulten, konsequenten Humanismus´ wiederbelebt sehen, auf den sich alle Ordnungsstifter aller westlichen Zeiten zu berufen pflegen.

Potentieller Leserkreis:
Sehr eingeschränkt. Vorsicht! Ganz ohne Ironie:Dieses Buch ist nur etwas für historisch interessierte Leser, die verlorenen Schlachten etwas abgewinnen können. Der brillante und pointierte Stil eines kühlen Geistes macht keinesfalls die Öde der Grabenkämpfe wett.

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