Samstag, 13. Dezember 2008

Messianismus in brillanter Schwärze:

Gore Vidals: Messias (1954)
In Kalifornien, der Heimstätte moderner Kulte, tritt in den fünfziger Jahren ein ehemaliger Leichenbestatter als obskurer Prediger auf, der eine gänzlich unamerikanische Religion predigt, dass nämlich der Tod nichts ist, vor dem man sich zu fürchten hab.: "Der Tod ist weder entsetzlich noch böse. Nur Sterben tut weh.“ John Cave (siehe die Initialen!) lehrt, dass „die Lebenden die Leidenden seien, von denen auf Zeit das schöne Dunkel des Nichtseins genommen worden sei.“
Was wäre, wenn eine solche alt-neue Verheißung im Medienzeitalter in die Hände derer geriete, die alles als Ware behandeln, die man verkaufen muss – „denn das ist alles, was wir haben.“?
Mit Hilfe von Eugene Luther (sic!) und dem Werbefachmann Paul (Paulus?!) Himmell lässt J. C., der ehemalige Einbalsamierer eines Bestattungsunternehmens, eine kirchliche Organisation aufziehen, die über die Medien das 'Wort Caves' verbreitet.
Mit keinem anderen Argument als: „Es funktioniert.“
Wofür die letzten beiden Offenbarungsreligionen Jahrhunderte und – tausende gebraucht haben, das schafft die disziplinierte Crew mitsamt den dazugehörigen Schismen und Konzilen und Umkehrung der ursprünglichen Botschaft per Kommentar und Auslegung durch die neuen Kirchenväter in einer Handvoll Jahren. Am Ende steht nicht die dem Leben ganz neuen Wert verleihende ursprüngliche Botschaft, sondern der erfolgreiche Verkauf von Todessehnsucht und die Organisation ihrer profitablen Verwertung. Das ehemalige Martyrium wird zum gewöhnlichen Life - style -accessoire.
Wie die Parallelisierung in den Initialen ihrer Agenten schon nahelegt, hat man es hier mit einer satirischen Persiflage aller Religionen zu tun, einschließlich des Mythos von Isis und Osiris, wenn man liest, dass eine weitere Protagonistin, Iris Mortimer, eine gesamtnationale Pilgerwallfahrt wiederaufleben lässt, die Caves über drei verschiedene Staaten verstreute Asche, einsammelt.
Die Psychoanalyse und “New-Age-Religionen” geraten ebenfalls unter den satirischen Beschuss des bekennenden Atheisten Gore Vidal. Die Hauptstossrichtung geht aber eindeutig gegen das in Amerika gebräuchliche Christentum, das so Charaktere wie Billy Graham und andere TV - Evangelisten hervorbringt, die trotz ihrer charismatischen und hypnotischen Ausstrahlung auf grauslige Weise medioker, bis vollkommen verblödet sind. Dem Erzähler selbst kommt schon früh „der Verdacht, dass sein gelassener Ausdruck ein nahezu vollständiges Vakuum an Intellektualität verbarg.“
Am Ende stolpert die neue Religion über die ihr innewohnende Ambivalenz, was jedoch dem gloriosen Laufen der Geschäfte keinen wesentlichen Eintrag tut. Denn der Sieg über die bisherigen symbolischen Universen in enttäuschend banalen Ritualen und Terminologien repräsentiert letztendlich die bloße Wucht des Mittelmaßes als medial erstellter totalitärer Transzendenz von skrupellosen Manipulatoren.
Dystopien, also Anti-Utopien, solch hoch angesiedelten Niveaus sind eher selten und erfrischend un-amerikanisch in ihren Zynismen.
Warnung:
1) die Anti-Utopie ist eine Textsorte, die man nicht wie einen Roman lesen darf.
Wer wegen des Plots und seiner interagierenden runden Charaktere zu lesen pflegt, wird sich über die hemdsärmelige Missachtung aller ihm bekannten Spielregeln des illudierenden Erzählens ärgern. Dystopien muss man der Welt – nicht der Charaktere - wegen lieben, die sie entwerfen. Der Spass daran ist der permanente Seitenblick auf die Transposition von Bekanntem, das der Erzähler/Autor augenzwinkernd und irritierend kommentiert.
2) Ja, der ehemalige Apostel, ghost-writer des neuen Kultes und ältliche Insider-Erzähler trägt die zwei sonst unterdrückten Vornamen Gore Vidals: Eugene Luther. Wegen des schamlos autobiographischen Anteils an diesem Text rät sich eine eher kursorische Lektüre solcher Partien an.

Nachtrag aus aktuellem Anlass:
Roger Kusch. Schon in seiner Zeit als Hamburger Justizsenator war er ein Hardliner, der aneckte und in die Schlagzeilen geriet. 2006 wurde er gefeuert.
Knapp drei Jahre nach dem Rausschmiss ist aus dem Politiker ein Sterbehelfer geworden - der bekannteste Sterbehelfer der Nation. Fünf Menschen hat Roger Kusch bislang zum Suizid begleitet. Fünf Menschen, denen er erfolgreich einreden ließ, für sie mache das Leben keinen Sinn mehr. Kusch betrachtet Sterbebegleitung, in dessen letztem Stadium er sich gefühlvoll entfernt, als Dienstleistung. Eine Dienstleistung, die er sich mit 8000 Euro bezahlen lässt. Das Prozedere ist immer gleich: Mit Hilfe seines gemeinnützigen Vereins informiert er die Menschen und rührt die Werbetrommel. Als Privatmann kassiert er ab.
Es funktioniert.

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