Samstag, 27. Dezember 2008

EPITAPH


Von mittlerer Statur,
Mit einer Stimme, nicht schlank nicht fett,
Ältester Sohn eines Volksschullehrers
Und einer Hinterzimmermodistin;
Mager von Geburt,
Obgleich der opulenten Tafel ergeben;
Die Wangen eingefallen
Und von überaus reichlichen Ohren;
Mit einem quadratischen Gesicht,
In dem die Augen kaum aufgehen
Und der Nase eines mulattischen Boxers
Der Mund drunter wie der eines aztekischen Götzen
- All dies schwimmend
In einem Licht zwischen Ironie und Perfidie –
Nicht sehr schlau noch völlig verblödet
War er was er war: eine Mischung
Aus Essig und Speiseöl
Ein Wurstdarm, gefüllt mit Engel und Bestie!

Selbstporträt
Zieht in Betracht, ihr Jungen,
Diesen Umhang eines Bettelmönchs:
Ich bin Lehrer an einer obskuren Mittelschule,
Hab meine Stimme beim Halten der Stunden verloren.
(Letzten Endes oder letzten Nichts
Mach ich vierzig Wochenstunden.)
Was sagt euch mein ohrfeigengebeuteltes Gesicht?
Erweckt Mitleid, mich anzusehen, nicht wahr!
Und worauf weisen diese Schuhe eines Seelsorgers hin,
Die verschlissen wurden ohne das Geringste damit zu tun zu haben.

Was die Augen betrifft, auf drei Meter
Erkenn ich noch nicht einmal meine eigene Mutter.
Was mir passiert ist? – Nichts!
Hab sie mir ruiniert beim Unterrichten:
Das schlechte Licht, die Sonne,
Das dürftige Gift des Mondlichts.
Und all dies wofür?
Für den gar nicht zu rechtfertigenden Erwerb eines Brotes,
Hart wie die Fresse des Bürgers,
Und mit dem Geruch und Geschmack von Blut.
Wozu wurden wir geboren wie Menschen
Wenn sie uns den Tod von Tieren bereiten!

Wegen der Überarbeitung, sehe ich manchmal
Merkwürdige Formen in der Luft,
Höre verrückte Karrieren,
Gelächter, kriminelle Konversationen.
Schaut euch diese Hände an
Und diese kadaverbleichen Wangen,
Diese spärlichen Haare, die mir blieben.
Diese teuflischen schwarzen Falten!

Zweifellos war ich mal wie ihr,
Ein Jüngling, vollgestopft mit schönen Idealen,
Träumte beim Giessen des Kupfers
Und beim Feilen des Diamanten:
Heute hält man mich hier
Hinter diesem ungemütlichen Restaurant
Verroht von dem Singsang
Dieses halben Hunderts Stunden pro Woche.

Landschaftsidyll
Seht jenes menschliche Bein, das vom Mond herabhängt
Wie ein Baum, der nach unten wächst
Dieses Furcht erregende Bein, das in der Leere baumelt
Nur schwach beleuchtet vom Strahl
Des Mondes und dem Luftzug der Vergessenheit!
(Nicanor Parra: POEMAS & ANTIPOEMAS)

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