Mittwoch, 29. Oktober 2008

Ein schwarzer Messias des Anarchismus

Ilja Ehrenburgs Groteske „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Julio Jurenito“ (1922)
In dieser Parodie aller Evangelien durch einen Candide des frühen 20. Jahrhunderts ist der Titelheld ebenso der geheime Urheber aller geschichtsrelevanten Ereignisse als auch ein ewig scheiternder Prophet, der nichts lehrt.
Kommt uns also sehr bekannt vor, so ein Subjekt.
Und ist uns lieber als der gesunde Menschenverstand, der lieber den „Don Quixote“ des Cervantes liest, weil da der verfressene Pancho eine Idealismuskritik abliefert und doch in der Genossenschaft mit der traurigen Gestalt des Hidalgo die Unverzichtbarkeit des Ideals gerettet ist.
Dem öffentlichkeitswirksameren Sowohl- Als auch begegnet die Groteske mit ihrem Weder - Noch.
Als Gustostückerl hier ein Beispiel für das Verfahren der satirischen Entlarvungstechnik:
Als Bevollmächtigter der fiktiven Republik Labardan befragt Jurenito den französischen Außenminister nach dessen Kriegszielen und erhält zur Antwort: „Diese Ziele sind der ganzen Welt bekannt … wir kämpfen für das Recht aller, selbst der kleinsten Völker, über ihr Schicksal zu entscheiden, für die Demokratie und für die Freiheit“
Daraufhin schickt Jurenito eine Deklaration folgenden Inhalts an alle Zeitungen, die jedoch, wenig überraschend, von der Militärzensur nicht durchgelassen wird:
Die Regierung der Republik Labardan kann im großen Kampfe zwischen der Barbarei und der Zivilisation nicht neutral bleiben. Aus den Unterredungen mit den Vertretern der verbündeten Mächte hat die Regierung von Labardan Einblick in die hohen Ziele der Verfechter des Rechts gewonnen. Allen Völkern, selbst den kleinsten, wird das Recht eingeräumt werden, über ihr Schicksal zu entscheiden. Die Polen, Elsässer, Georgier, Finnen, Irländer, Ägypter, Hindus und Dutzende anderer Völker werden vom fremden Joche befreit werden. Die Unterdrückung der Völker anderer Rassen wird aufhören, und es darf keine Kolonien mehr geben. Schließlich wird im despotischen Russland beim Siege der Verbündeten die Freiheit eingeführt werden. Die Regierung und das Volk von Labardan können nicht länger schweigen und treten stolz in die Reihen der Kämpfer für das wahre Recht!

Nach eingehender Lektüre offizieller Verlautbarungen redigiert Jurenito nunmehr seine Deklaration in folgendem Sinn:
In Nürnberg lebte, wie es die Historiker genau erforscht haben, im XVII. Jahrhundert ein Uhrmacher labardanischer Staatsangehörigkeit. Darum muss Nürnberg mit allen anliegenden Gebieten, München mit inbegriffen, Labardan zufallen.


Als Beispiel für die unheimliche Ätze fast schon wissenschaftlich zu nennender Klarsicht im Charakterisieren weltanschaulicher Kernbestände folgende Episode:
Einer der Jünger, ein Mensch namens Karl Schmidt lässt einen Soldaten hinrichten, der zu seiner im Sterben liegenden Frau flüchten wollte. Und erklärt sachlich:
Ich verstehe Ihre Gefühle … und würde Sie unverzüglich zu Ihrer Frau schicken, aber dies würde zum Überhandnehmen der Desertionen und zur Herabsetzung der Kampffähigkeit der Armee führen. Darum werden Sie im Interesse Ihrer Kinder, und wenn Sie keine Kinder haben, im Interesse der Kinder Deutschlands in zehn Minuten sterben müssen“
Und dieser Schmidt hat - schon bevor Ernst Jünger überhaupt zu schreiben begann – bereits dessen Porträt gesprochen:
„Sie glauben, dass es mir und allen Deutschen angenehm ist, zu töten? … Nein, das Töten ist eine sehr unangenehme Notwendigkeit. Eine sehr schmutzige Beschäftigung ohne Begeisterung und ohne Freude. … Aber es gibt keine andere Wahl. … Ob man zum Wohle der Menschheit einen verrückten Greis oder zehn Millionen Menschen tötet, ist nur quantitativ verschieden. … Gerade deshalb werde ich keinen Augenblick schwanken, wenn es der Gesellschaft zum Vorteil gereicht, zum Wohle Deutschlands morgen und zum Wohle der Menschheit übermorgen alle ‚Lusitanias‘ zu versenken und Hunderttausende von Menschen umzubringen. Lohnt es sich da noch, von Städten, Kirchen und ähnlichen Dingen zu sprechen? Obwohl es um sie natürlich schade ist...
Und der Kommunistenfigur (Lenin erkannte sich widerspruchslos darin wieder) wird folgendes Credo in den Mund gelegt:
Wir führen die Menschheit einer besseren Zukunft entgegen. Die einen, deren Interessen dadurch geschädigt werden, stören uns auf jede Weise … Diese müssen wir beseitigen und oft einen zur Rettung von Tausenden töten. Die anderen widerstreben, da sie nicht begreifen, dass man sie ihrem eigenen Glück entgegenführt; sie fürchten den schweren Weg und klammern sich an den elenden Schatten der gestrigen Heimstätte. Wir treiben sie vorwärts, wir treiben sie mit eisernen Ruten ins Paradies

Nach 1928 konnte der Julio Jurenito 34 Jahre lang nicht mehr in der Sowjetunion erscheinen. Irgendwo verständlich.

Falls das der Differenziertheit des Lesers zu schematisch ist, sei daran erinnert, dass im Klischee erst der Bürger zu sich kommt und sich auch noch was darauf zugute tut.

Bei eventuell erwachtem Interesse: sehr gut vorgestellt ist dieser geniale Schelm aller Antis dieser Welt unter

http://de.wikipedia.org/wiki/Die_ungew%C3%B6hnlichen_Abenteuer_des_Julio_Jurenito

Diesem Artikel sind auch die obigen Zitate entnommen.

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