Mittwoch, 30. Januar 2008

Moralinstinkte

als Kulturprogramm, oder „Ich bin in einer Irrenanstalt!“
Elias Canettis Blendung

Canetti ist der einzige Dichter-Denker, der den Hass so ernst genommen hat, dass er ihm und seinen Verzweigungen ein Lebenswerk gewidmet hat.
Das macht ihn notwendigerweise zu einem scharfsichtigen Moralkritiker. Denn die Moral ist immer schon mit ihm fertig, bevor sie ihn ins Auge zu fassen gedenkt. Sie weiß über ihn eigentlich nur zu berichten, dass er in Abwesenheit und Mangel von Liebe bestehe.
Der von Canetti gesichtete Zusammenhang von Hass und dem Stachel des Befehls, der in jedem gesellschaftlichen Machtverhältnis schwärt, verwahrt sich gegen solche Zumutung, die Hand liebend küssen zu sollen, die einen züchtigt. Geht also über die dumpfen Empfehlungen von Leute-Ausrichtern insofern hinaus, als die wohlbekannte Dialektik der Moral hinterfotzig sistiert wird zugunsten der Gratifikation, die in ihr steckt.

Keiner der schwarzen Moralisten hat das Menschenfresserische der Moral, also ihre Funktion und Wirkung so inständig verfolgt wie Canetti. Hier ein paar Facetten seiner giftigen Beobachtungen.
- Er betrinkt sich an den Fehlern der anderen, ein Trunkenbold der Moral.
- Ein Mensch, der sich allmählich in ein schlechtes Gewissen verwandelt. Aber es ist ihm so wohl dabei.
- Er hält sich für besser als sich selbst, es ist ihm angenehm, eine so gute und eine so schlechte Meinung von sich zu haben.
- Das Schuldgerede, durch das man sein Dasein fristet.
- O guter Mensch, wen noch willst du in deinen Bettelsack stecken?
- Er tröstet sich für seine Erfolglosigkeit mit Reinheit.
- Ich habe es satt, dass jeder Mensch alle anderen immer nur seiner eigenen schlechten Eigenschaften beschuldigt!
-
Was immer ihre Tätigkeit, die Tätigen halten sich für besser.
Das gilt selbstverständlich für sämtliche Generäle, Puritaner, und alle möglichen anderen Superlative auf zwei Beinen, die immerzu instinktiv das Richtige tun: -Alle vergeudete Verehrung.

Canettis Folgerung aus diesem Befund: wenn man denn schon menschen- und selbstbildlich aufeinander losgehen muß, dann wäre es das Ungefährlichste, etwas zu hassen, dem damit kein Eintrag geschieht: Kampf dem Tod.
Listig ist das schon, aber genau so ein Moral- Reetablierungstrick wie bei Nietzsche, der eine konkurrierende Privatmoral gegen die soeben von ihm in Grund und Boden kritisierte entwirft, als ob er eine höhere Tochter wäre, die unter die Veganer geht, weil ihre Mutter was mit dem Fleischer hat.
Man halte sich in all diesen Fällen lieber an die bessere Hälfte der bürgerlichen Selbstkritik, ihre analytische Schärfe, bevor sie in den nächsten Fehler verfällt.

Moral pflegt in Büchern – wen wundert´ s? - als Sprache aufzutauchen. Und es wird einem unheimlich zu Mute, wenn in Canettis Roman Die Blendung die moralische Phrase als nicht durchschaute Welt der Interessen vorgeführt, aber von keinem der Akteure durchschaut wird. Im Kopf des Büchernarrs Kien, der - getrennt von der Welt - ein traditionalistisches Bücheruniversum seit Konfuzius bereit hält, geht unverhältnismäßig mehr vor sich, als in der verzerrten Kommunikation mit seiner angetrauten Haushälterin drin ist.
Dem Grundgesetz der Groteske gemäß suchen die Figurenperspektiven dieses Romans vergeblich nach der Geltung der von ihnen für gültig erachteten Werte und sind regelmäßig schwer in ihrer Person gekränkt, wenn sich wieder mal erweist, dass nirgends gilt, was alle propagieren. Man lese und staune über folgende Verarbeitung eines Zwists um Sitzplätze in der Straßenbahn, den eine Mutter aus dem ihr ja wohl zustehenden Muttertrieb für ihre Kinder anzettelt. In der - im Streit zu Schaden gekommenen - Kontrahentin Therese lesen wir Folgendes vorgehen:
Man hatte sie beleidigt, sie musste sich wehren. Ihre Erwiderung war so unfein wie der Angriff. Sie trug keine Schuld. Therese sank auf ihren Sitz zurück. Niemand, auch der Herr neben ihr, dem sie den Platz verschafft hatte, nahm für sie Partei. Die Welt war von Kinderfreundlichkeit verseucht.“
Das Zitat stehe symptomatisch für eine Parabel über einen weiblichen „Herrn Karl“ und dessen erbleichen machende Rechtschaffenheit. Da alle Figuren auf der Gültigkeit dessen beharren, was ihnen die Wirklichkeit in der Geltung vorenthält, geht - irgendwie logischerweise - diese Weltusurpation unter der Flagge enttäuschter Idiotismen schließlich in Flammen auf. Wie der gebildete Wiener sagt: vorläufig definitiv.
Man beachte, das sind keine Blinden, die da herumtapern.
Da wurde laut Titelmetapher höchst aktiv geblendet. Von wem? Und da will es dem deutenden Blick so scheinen, als ob das Thema sei: selbstinduzierte Beihilfe zur Realitätsverkennung... und unterlassene Hilfeleistung bei entgleisten Selbstmythisierungen...und innerliches Einverständnis unter consenting adults, denen am Verstehen ihrer einsamen Kopfinhalte nichts liegt, weil diese - methodisch ihren abstrakten Wahn pflegenden Gestalten - mit sich und ihrem entfremdeten Aneinander - Vorbei sturzzufrieden sind.

Cold comfort


Bei jeder Niederlage tröstet mich, dass auch Rom nicht an einem Tag zerstört wurde.
Stutzig macht mich, dass es Rom immer noch gibt.

Globalisierung
A.: Ich lese gerade, der amerikanische Präsident beantragt eine Aufstockung des Militärbudgets.
B.: Vergiss nicht, was du sagen wolltest, ich muss nur mal eben meinen Broker anrufen.

Geissler, der
bindet sich in seinem alternativen Moralismus an den Gegner. Falls es da jemals eine Sache gegeben haben sollte, ist die elegant aus dem Schneider.

Intelligenz
A.: „Das allgemein bestverteilte Gut überhaupt. Da, was nichts kostet nichts ist, wird nur im äußersten Notfall davon Gebrauch gemacht.“
B.: „Habe ich dir eigentlich schon meinen neuen Wagen gezeigt?“

Leitgebildet
Das Bildungsniveau der Leute ist dermaßen hoch, dass sie sich nicht mehr wirklich ernst nehmen.
Wie sollten sie da einander ernst nehmen?

Opportunist
Haargenau so ein Glücksritter wie wir, der aber ärgerlicherweise auch noch Erfolg dabei hat.

Wunschdenken
Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen meiner Regierung und meinem Konto. Letzteres kann mir gestohlen werden, erstere bleiben.

Tarife-Vertrag, unbemäntelt / Divide et impera
Angesichts der erdrückenden Fülle ihrer ihnen gemeinsamen Interessen wäre es unklug, die Leute nicht voneinander zu trennen.

Zwickmühle
Wer die Bettelsuppen der Cleveren verschmäht, sehe zu, dass er nicht den Wassersuppen der Weisen anheimfalle.

Dienstag, 29. Januar 2008

Job-Center

bietet moralisch einwandfreien Lebensersatz, wenn es damit herausrückt.

Klischeekritik
lebt von der hartnäckigen Unterstellung der Kulturpflegerei, es liefen im Großen des Ganzen Leute herum, die keine Abziehbilder wären.

Tiermarkt
Junge Ziegen umständehalber billig abzugeben, nicht zum Verzehr.

Kopfgeburten
Der Gedanke ist ein illegitimer Bastard aus der liebenden Vereinigung von Welt und Kopf. Legitim ist In der weltweiten Kleinbürgerei die Meinung.

Quod licet jovi...
Einer arrogiert Herablassung. Das geht. Der Versuch, sich zur Arroganz herabzulassen, geht schief.

Principiis obsta!
Unfromme Pferde zu reiten, zahlt sich nicht aus. Sie werfen einen ab. Noch undankbarer ist es, Prinzipien zu reiten, die werfen prinzipiell nichts ab.

Besitz
Nutzung eines Eigentums, von dem man erst dann was hat, wenn ein Fremder sich daran abarbeitet.

Erfolgsnachrichten
Warum lassen sich aus der Statistik keine Argumente gegen die harten Daten drechseln?
Weil ihre Begriffslosigkeit die Interpretenriege heiß macht.

Novellenproduktion
"Geben ist seliger denn nehmen." Sagte des Gesetzes Geber und bescherte eine weitere Novellierung.

Erbgesetze
Leute, die bei Aldi und Ikea kaufen, haben Kinder, die bei Aldi und Ikea kaufen. Oetker- und Flicksöhne bleiben Väter von Flicks und Oetkers: es geht doch nichts über die Wahrheit der Vererbungstheorie.

Montag, 28. Januar 2008

Der Ankläger


kriegt einen Orden, oder: Die maulstopfende Rache der Sprachlosen an Uwe Dicks Individualanarchismus

Dem Schreihals, der da meint, etwas erinnern zu müssen, was voll an den laufenden Geschäften vorbeiläuft, wird gemeinhin ein: „Ja wie soll es denn anders gehen?“ entgegengehalten. ("Ja, was hat er denn bloß immer gegen den Benedikt?" hieß das bei Karl Kraus.)Und die nicht ganz so pfiffigen Aufsässigen tappen prompt in die Falle, ein idealiter durchaus teilbares Anliegen zu formulieren, zu denen nur leider kein bekannter praktischer Weg führt.
Der Noblesse des Anliegens wegen kriegt ein solcher Rebell dann, wenn es schlimm kommt, ganz zu Recht die Schmach eines Verdienstordens vom Ministerpräsidenten feierlich an ihn hinangeredet und herablassend hinabgeheftet.
Und alle sind’s zufrieden, bis auf den, der sich fragen muss, was er denn da jetzt wieder falsch gemacht hat, wenn ihm plötzlich alle auf die Schulter klopfen. Er pinkelt den vorgefundenen Verhältnissen ans Bein, und deren tragende Stützen lassen sich eine Laudatio auf ihn vom Germanistikprofessor anfertigen, die der Landesvater dann souverän verliest. Was ist denn da los?

Armer Uwe Dick! Dein Fehler war, dass du wohl selber die von dir benannten Schädigungen, die dich schreien machten, nicht für hinreichend erachtetest. (Dabei ist der Schrei die unverstellteste Lebensäußerung, die nun wirklich keiner Rechtfertigung bedarf.) Du aber musstest den Schädigungen auch noch das weihevolle Mäntelchen allgemein teilbarer Öko-Ideale und einer Erlebensauthentizität umhängen. An dieser staatsbürgerlich löblichen Heuchelei ist euereiner dann leicht zu packen. Und die ganze schöne Kritik an den laufenden Faschistereien, an geistig verlotterter Kirchengeilheit und an der Abschaffung der Welt durch und in den Medien geht nach hinten los.
Plötzlich ist die so was von gar nicht mehr da. Geradezu zu einem vergleichsweise nichtigen Anlass für menschheitlich Wichtigerem verflüchtigt. Schönes Beispiel für die Gewalttätigkeit der Ideale: sie machen jeden noch so ernsthaften Mucks einfach platt.

Die Logik im Vorgang: du und deine Gegner, ihr wart euch von vornherein in der Lagebeurteilung nicht einig. Bei klärendem Nachfassen hätte es Zoff gegeben, dass es nur so fetzt. Aber nur deine Gegner waren kluge Strategen. Statt dir den Grund fürs Wehgeschrei zu bestreiten belobigten sie die Schönheit des Schreis und gemeindeten dich in ihrer Aller Anliegen-Serienproduktion ein. Schön bös’ warst du wieder!
Man müsste dich eigentlich vor dir selber retten, wenn du’ s nicht selber schon sehr mehrdeutig und trefflich vorhergesagt hättest:
Gehört schließlich zum Demokratieverständnis, dass jede Kehrseite ihre Medaille bekommt.“
Statt einer weiteren Goppelrede, hier ein paar reißerische Schmankerln dem Gedächtnis der Generationen zum Anbeißen anvertraut:
- Früher hängte man Brunnenvergifter, heute behängt man sie mit Verdienstkreuzen.
- Denn wer einen Dachschaden hat, der ist freilich offen für das Höhere.
- Am Anfang war die Sendung, und dann verging die Welt. So ist Karl Kraus bis heute aktuell. Und ein Scheusal. Denn nicht das Übel, sondern der’ s benennt, macht sich verhasst.
- Wer Sprache nicht will, der blöke als Stimmvieh sein Heil.
- "Das niemals vertagte Leben".
Ach Uwe, das kapiert doch keiner!
Das Verarbeitungsmuster gibt´s doch gar nicht. Ich höre schon die Einordnungsrasterfahndung rattern: Lebensphilosophie, Vitalismus...Und wieso verirrt sich ein "vertagt" hierher. Diese immerwährende Justizsession gibt´s doch gar nicht!

Damit jetzt nicht alle gleich losrennen, die sowieso einen Grant auf Bayern als Teil eines größeren Deutschland haben, und sich Dicks Autobiographie „ohne Ich“ oder gar seine erfrischend anarchistelnde „Sauwaldprosa“ zulegen: a bissl kompliziert ist er halt schon zu lesen, der Uwe. Hier eine der weniger fordernden Stellen, die aber wenigstens andeuten könnte, was passiert, wenn stilbestimmender Bedeutungsüberschuss aus Portmanteau-Worten herausgekitzelt werden soll:
Dies Ja zum Nein mit Witz und Galle; wissend dass es niemals mehrheitsfähig wird. Ergo: Biographie statt Karriere. Nur diese Haltung kann herausführen aus der sogenannten Identitätskrise, jener vielbequatschten Ausrede für jedermann, vom saturierten Doppelkinnhead obenauf...bis zum uniformierten Mob im staatlichen Ehrenschmutz".

Wer einen politisch aufgepimpten Arno Schmidt durchaus vertragen könnte und nicht gleich den schrägen Vogel in die Ecke schmeißt, wenn ihm ein poeta doctus mit einem „Canto für Ezra Pound“ kommt, der hat sehr viel länger an dem Werk zu lesen, als dessen Seitenzahl vermuten macht.

Dementi


Das Dementi ist der Verdacht erregende, aber meist taugliche Versuch, dem Rauch sein Feuer abzusprechen.
Beispiel: Der Gazastreifen ist kein Ghetto. Es geht nicht um die Endlösung der Palästinenserfrage.
Wenn ein Politik-Experte mir logisch beweist, dass Feuer nicht die Haut versengt, halte ich die Hand ins Feuer und finde ganz ohne Logik heraus, dass mein Misstrauen gerechtfertigt war.

Kritiker
Und überhaupt sollen diese ewigen Nörgler erst mal die Reste von Gedärm und verspritztem Gehirn vor ihrer eigenen Haustüre abwaschen, bevor sie sich wieder ihrer geistigen Onanie hingeben!

Denkfehler
Man stelle sich vor! Da macht einer theoretisch Amnesty international nieder und ist praktisch selber Mitglied!
Da reißt einer immer noch sein Maul auf gegen den Kapitalismus und spekuliert selber an der Börse!
Der Fehler des moralischen Denkens: es macht ein Obwohl an die Stelle, wo ein Weil hingehört.
Hätte diese Form des Denkens Recht, dürfte keiner den Krieg kritisieren, obwohl er selber dabei mitmacht. Und Staatsbürger, die sehr grundsätzlich am Staat herummäkeln, stünden kurz vor ihrer Einweisung ins Irrenhaus.

Sonntag, 27. Januar 2008

Zwischentöne


werden immer dann angemahnt, wenn die Melodie, nach der getanzt zu werden hat, mit unmißverständlicher Deutlichkeit gepfiffen wird.

Sadismus


ist das Gerücht über den Marquis de Sade und seine „Juliette oder die Wonnen/ Vorteile des Lasters

Wenn ich mich an den schwarzen Anthropologien der diversen tristen Schöngeister ergötze, ist das kein Bekenntnis zu irgendeinem Kronzeugen für das von mir möglicherweise geteilte finstere Menschenbild, sondern erst einmal ein literarisches Vergnügen. Ich behalte mir als Theoretiker vor, die Sphäre der Vorstellung getrennt zu halten von ihrer Indienstnahme für moralphilosophische/-theologische oder pädagogische Zwecke.

Schon die ganze Anlage dieses Reise- als Anti-Familienromans weist ihn als Gegenentwurf zu den unsäglichen Geschichten aus, die ihren Daseinsgrund in dem schließlich erfolgreichen Sieg der verfolgten Unschuld und sittenstrengen Tugend suchen und finden. Zu meinem innigen Behagen lese ich am Ende des Romans Juliettes tugendhafte Schwester Justine vom Blitz erschlagen, während der Ausbund an gewissenloser Triebhaftigkeit noch weitere zehn Jahre in Glück und Freuden schwelgen darf.
Die Demontage der üblichen Werte (Familie, Religion, Gesetz) folgt dem selben schwungvollen Muster. Es muss dem Marquis großes Vergnügen bereitet haben, denn er gibt sich noch nicht einmal die Mühe der späteren, naturalistischen Entlarver bei der Destruktion dessen, was eh schon mit den Blutströmen seit 1789 den Bach runter war. Das trennt ihn als Feudalen tatsächlich von den Betulichkeiten der Bürger Ibsen und Strindberg.
(Damit ich nicht gleich als Höllenhund ad acta gelegt werde: mir gefällt schon auch, wenn der Kasperl das böse Krokodil mit der Pritsche haut, und es beschleicht mich Genugtuung wenn der Bud Spencer die Bösen verdrischt. Aber auch da bin ich keineswegs davon überzeugt, dass die Bebilderung des Kulturmusters „positives Menschenbild“ eine senkrechte Auskunft über mich oder irgendwen sonst auf diesem Planeten ist.)

Auf ihren Reisen lernt die Titelfigur Juliette, die Auspinselung einer prinzipiell dämonisierten Triebsphäre, unter anderen grundlos niederträchtigen Triebheimern den Polizeipräsidenten Ghigi kennen. Nach dem Motto: „Eines der wichtigsten Gesetze der Natur ist, dass es nichts Unnützes auf der Welt gibt", steckt Ghigi die 37 römischen Krankenhäuser und Asyle für arme Mädchen in Brand. Der bedeutendste Physiker Europas, Graf Braciani, hilft ihm, „daß keines der durch die umsichtige Politik oder vielmehr durch die wollüstige Boshaftigkeit von Ghigi zu Tode verurteilten Opfer entkommt."

Wie man liest, das Werk weidet sich an der genüsslichen Ausmalung eines vorsätzlich einfältigen, nämlich alternativ destruktiven Naturbegriffs. Und das hat erst mal was Erfrischendes gegenüber der öden Naturschwärmerei eines Rousseau: “Alles im Universum zerstört sich, mit Ausnahme der profunden Gesetze des Gleichgewichts. Nur durch Missetaten erhält sich die Natur und erobert sie die Rechte zurück, die die Tugend ihr streitig macht. Wir gehorchen ihr also, wenn wir uns dem Bösen hingeben."
Nu mal langsam mit die Pferde!
Erst wird die „Natur“ mit einem freien Willen begabt, der sich zu Recht an den menschlichen Satzungen missetäterisch vergehe, und dann ist diese mit sich selbst gesetzmäßig im profunden Gleichgewicht schaukelnde üble Tante plötzlich allegorische Normfigur?
Dass noch niemand bislang auf den schwarzhumorigen Dreh hingewiesen hat, der aus lustvoller Hingabe eine neue Moral zu drechseln sich nicht ziert („Meine Lust ist mir Befehl“ ist schon eine der holdesten Drangsale!), mag an der schlechten Presse des Herrn Sade liegen, denn die sorgt gemeinhin konsensheischend für die üblichen Denkhemmnisse.
Was an sogenannten Monstrositäten passiert, soll kurz an einem gewissen Minski illustriert werden.
Ich muß Ihnen jetzt...noch ein paar Enthüllungen über meine Person machen. Ich bin 45 Jahre alt, meine sexuellen Fähigkeiten sind so groß, dass ich niemals schlafen gehe, ohne zehnmal gespritzt zu haben. Es ist wahr, dass die große Menge Menschenfleisch, die ich esse, sehr zur Mehrung und Verdickung der Samenflüssigkeit beiträgt....Da ich hoffe, dass wir uns zusammen entleeren werden, ist es unbedingt notwendig, dass ich Ihnen die erschreckenden Symptome dieser Höhepunkte bei mir im voraus sage. Entsetzliches Geheul geht ihm voraus, begleitet ihn, und die Stöße des Samens, die in die Höhe schießen, spritzen oft fünfzehn- oder zwanzigmal hintereinander bis unter die Decke [... ]Niemals erschöpft mich die Vielzahl der Freuden [...]Was das Glied anbetrifft, von dem all das kommt, hier ist es“, sagte Minski, indem er eine Rute hervorholte, die fünfundvierzig Zentimeter lang war und zweiundvierzig Zentimeter Umfang hatte; obenauf saß ein purpurner Champignon, der so groß war wie ein randloser Hut...“
Wer nicht unbedingt auf Empörung aus ist, der dürfte dieser mit ernstem Gesicht vorgetragenen Groteske über einen abnorm gebauten Menschenfresser ohne die üblichen harten Grenzen, welche die Natur dem Manne setzt, zumindest ungläubig lächeln. Und das Werk selber hilft ihm dabei. Das Schöne am Rationalismus ist nämlich, dass er die Grenzen benennen kann, die dem, was seines Reiches nicht ist, gesetzt sind:
Mäßigen Sie sich also", rät ein erfahrener Bösewicht Juliette nach einigen schlimmen Taten, „unglücklicherweise bieten sich uns die Verbrechen nicht im Verhältnis zu dem Bedürfnis an, das wir haben, sie zu begehen. Ist es nicht richtig, meine schöne Freundin, daß Sie bereits entdeckt haben, daß Ihre Wünsche Ihre Mittel übersteigen?"

Gesetzt den Fall, das Menschenbild vergäße, dass es Fiktion, Illusion, Imagination ist: die Vorstellung noch der gierigsten Transgression sieht sich auf die Begrenztheit der Physis verwiesen.
Wer also – aus welchen Gründen auch immer – den Ernst des Lebens in der Sphäre des diesmal unschönen Scheins auffinden will, der steht mit dem päpstlichen Index und anderen seelsorgerischen Bestrebungen auf einer Stufe, und nicht auf der Ebene des Textes. Ich nenne nur ein Beispiel aus der Rezeptionsgeschichte, das sich wegen seiner Prominenz anbietet.
Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ hat aus dem rabulistischen Naturgleichgewichts-Unfug des Herrn Sade philosophisches „Humankapital“ gegen den Faschismus verfertigt. Das ist als intellektueller Selbstrettungsversuch - vor der Bedrängnis einer ansonsten kapitulationsfreudigen Zeit - in die Gefilde der Philosophiegeschichte zunächst einmal eine durchaus unverächtliche Unternehmung gewesen.
Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass diese verbesserte Neuauflage des alten Urteils der - immer schon und von je her - profund Tieferen über den „Aufkläricht“ sich einen niederzumachenden Popanz ausgerechnet aus der Plunderkiste der Philosophie zurechtlegt, wenn es um Auskünfte über die weltgeschichtliche Aktualität geht: „Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen [bekundet] die Identität von Herrschaft und Vernunft.“
Das nenne ich, ein literarisches Konstrukt für bare Dolche nehmen. Mir, der ich nicht im Legitimationszwang eines Philosophen stehe, fallen 1000 Argumente ein, die sich alle dahingehend zusammenfassen lassen: wenn ich das selbe Ziel mit anderen Mitteln erreiche, erlaube ich mir ein abwägendes Grübeln.

Sade, der während der französischen Revolution als Mitglied des Justizapparats reichlich Gelegenheit gehabt hätte, sich an den - ihn in seinen Büchern begeisternden – Blut- und Spermaströmen zu besaufen, wurde wegen Saumseligkeit und als Opfer von Untätigkeitsbeschwerden, wenn es um die Vollstreckung von Todesurteilen ging, von seinem Posten geschasst.
Also etwas mehr Ernst, meine Herrn! Auf dem Papier eine sich als grenzenlos imaginierende Triebnatur sich belustigen zu machen, ist Welten fern von den Möglichkeiten der Inszenatoren der letzten beiden und folgenden Weltkriege.
„Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ ??? Das scheint mir ein arger Rückfall hinter die ältere Position der Frankfurter Schule, die noch von einer halbierten Aufklärung wusste, wenn es um eine Besprechung des gesellschaftlichen „Verhängnisses“ ging.

Oder sollte vielleicht doch Karl May den Hitler gemacht haben!?

Kein Kunstwerk, diese „Juliette“, dafür ist der bloße Gegenentwurf gegen den moralischen Familienroman zu trivialschematisch, aber doch ein bislang unübertroffener Beweis für den ebenso ohnmächtigen Idealismus des Bösen wie sein pfäffisches Gegenteil.

Samstag, 26. Januar 2008

Zahnarzt


"Der Beweis zerstört, selbst das Wahrste zerstört der Beweis." (Canetti)
Aber nur das, was an ihm als Superlativ gedacht werden kann, also die Verwandlung einer Aussage in eine Eigenschaft, die mit mehr oder weniger Intensität versehen wurde.
Man kann selbstverständlich das Denken methodisch so zurichten, daß jedes Argument ein Gebiß wird. Den Zahn würde ich ihm hiermit gerne gezogen haben.(gitano)


Zukunft
Die Zukunft, wenn sonst schon nichts, ist euch sicher.
Als deren Architekten und Gestalter bieten sich an: vorwiegend ehemalige Lehrer, die gemerkt haben wie aufreibend dieser Beruf ist; eine entlaufene Naturwissenschaftlerin und verkrachte Juristen, sozusagen künstlerisch ambitionierte Dilettanten, die gerne am Volkskörper in corpore vivo herummantschen. Darüber blutige Witze zu reißen verbietet sich: das ist einer.

Zuversicht
Als Abendbrot ein bekömmliches Schlafmittel. Als kräftigendes Frühstück zu wenig substanziell.

Zweierlei
Das Abschreiben eines ausgemachten Prinzips aus der Wirklichkeit und dessen gewaltsames Aufrechterhalten in der dadurch konstituierten Wirklichkeit seien eigentlich – so sollte man meinen – zweierlei.
Nichts da, sagt die Innere Sicherheit und behandelt den Kritiker am Gewaltmonopol so, als hätte der sich mit der Wucht ihres Prinzips versehen, im Falle sie von dieser prinzipiellen Erlaubnis dazu Gebrauch machen will.

Zwei Seiten
habe jedwedes Ding auf Erden. Warum so bescheiden? Wenn sich eh nichts Rechtes über was auch immer ausmachen lässt, dann geht jed’ Ding von sich aus in das Sphärische der unendlichen Standpunkterei über: "Ich als Negerin mit fünf Kindern meine,..."

Freitag, 25. Januar 2008

Ritualismus


ist das absurde Brauchtum des klassischen Klassikers, oder „Weh dem, der Symbole sieht!“: Samuel Becketts „Watt“

„..Mr. Knotts Mahlzeiten machten kaum Mühe.
Samstag abends wurde eine Menge Nahrung zubereitet und gekocht, die genügte, um Mr. Knott eine Woche lang durchzubringen.
Dieses Gericht enthielt Nahrungsmittel verschiedener Art, wie Suppen verschiedener Art, Fisch, Eier, Wild, Geflügel, Fleisch, Käse, Obst, alles verschiedener Art, und freilich Brot und Butter, und es enthielt auch Getränke, denen am meisten zugesprochen wird, wie Absinth, Mineralwasser, Tee, Kaffee, Milch, Stout, Bier, Whisky, Cognac, Wein und Wasser, und es enthielt auch viel für die Gesundheit, wie Insulin, Digitalin, Kalomel, Jod, Laudanum,
Quecksilber, Kohle, Eisen, Kamille und Wurmmittel, und freilich Salz und Senf, Pfeffer und Zucker, und freilich ein Tröpfchen Salizylsäure gegen die Gärung.
Alle diese Dinge und noch viele andere, die zu zahlreich sind, als dass sie hier erwähnt werden könnten, wurden in dem berühmten Topf innig miteinander vermischt und vier Stunden lang gekocht, bis die Konsistenz von Maische oder Mus erreicht war, und all die guten Sachen zum Essen und all die guten Sachen zum Trinken und all die guten Sachen für die Gesundheit wurden unwiederbringlich vermengt und in eine einzige gute Sache verwandelt, die weder Speise noch Trank, noch Arznei war, sondern eine ganz neue gute Sache, von der schon ein Löffel voll den Appetit gleichzeitig anregte und verdarb, Durst erzeugte und löschte, die Lebensfunktionen des Körpers gefährdete und förderte, und
überdies angenehm zu Kopf stieg.
Watt fiel die Aufgabe zu, die Zutaten, aus denen sich dieses Gericht zusammensetzte, mit äußerster Genauigkeit zu wiegen, zu messen und zu zählen, und jene, die einer Zubereitung bedurften, für den Topf zuzubereiten und sie ohne Einbusse innig miteinander zu vermischen, so dass nichts mehr voneinander zu unterscheiden war, und sie zum Kochen zu bringen, und wenn sie kochten, sie am Kochen zu halten, und wenn sie gekocht waren, ihr Kochen zu unterbrechen und sie hinauszustellen ins Kühle, an einen kühlen Platz. Diese Aufgabe beanspruchte Watts Kräfte, die seines Geistes und die seines Körpers, auf das äußerste, so heikel und so schwer war sie. Und bei warmem Wetter geschah es bisweilen, während er mischte, bis zu den Hüften entblößt, und mit beiden Händen die große Eisenstange handhabte dass Tränen hinabfielen,
Tränen geistiger Erschöpfung, von seinem Gesicht in den Topf, und von seiner Brust, und aus seinen Achselhöhlen, durch seine Anstrengungen hervorgerufene dicke Schweißperlen, ebenfalls in den Topf. Auch seine seelischen Reserven wurden auf eine harte Probe gestellt, so groß war sein Verantwortungsbewusstsein. Denn er wusste, so als hatte man es ihm gesagt, dass das Rezept dieses Gerichts seit seiner Zusammenstellung vor langer, langer Zeit nie verändert worden war und dass die Auswahl, die Dosierung und die Mengen der nötigen Zutaten mit der peinlichsten Genauigkeit berechnet worden waren, um Mr. Knott für eine Folge von vierzehn vollen Mahlzeiten, das heißt sieben vollen Mittagsmahlzeiten und sieben vollen Abendmahlzeiten, ein mit der Erhaltung seiner Gesundheit vereinbares Höchstmass an Genuss zu gewähren.Dieses Gericht wurde Mr. Knott kalt, in einem Napf, um Punkt zwölf Uhr mittags und pünktlich um sieben Uhr abends das ganze Jahr hindurch serviert.“

Watt ist einer der Diener von Knott. Watt, als der übliche Ritualist, macht sich und alles andere Dienstliche mit, ist dieserhalb weder glücklich noch unglücklich, es passiert halt das vorübergehende Vorkommende, abgesehen von dem, was nicht passiert und was sonst noch hätte passieren können. Es geschieht. Riten sind Handlungen, denen sorgsam jeder erkennbare Zweck wegoperiert wurde. Hier zum Zwecke der methodisch konstruierten Sinnlosigkeits-Stiftung.
Man muss also gewisse Qualifikationen als Leser mitbringen, wenn man es mit diesem Lesestoff aufnehmen will. Es darf einem nichts ausmachen, seitenweise Beschreibungsprosa darüber durchzustehen, dass Watt nach rechts gesehen hat, gefolgt von ebenfalls seitenweisen Reflexionen darüber, dass er doch ebenso nach links hätte schauen können und dass ihn dabei jemand hätte beobachten können, derjenige es aber auch hätte sein lassen können. Man muss also der Strukturleserei was abgewinnen können, um in den Genuss der Absurdität zu kommen, die unentwegt Konstrukte sorgsam und umsichtig aufbaut, nur um sie auf ihrem Höhepunkt der Komplexität ins Nichts verpuffen zu lassen. Wer den Absurdismus unterhaltsamer haben will, der lese Becketts Murphy. Niederschmetternd auferbaulich. Falsch: auferbaulich niederschmetternd!

By the way:
Das gellende Lachen
des Austrägers jenes wöchentlich angelieferten Pfundes von zeitungsförmigem Werbematerial, der mich bei meiner seit Jahrzehnten geübten Handbewegung erwischte, die sein mühsam Herangeschlepptes aus dem Briefkasten ungesichtet in den Papiercontainer entsorgte,

ist leider reine Literatur.


Ein Mensch, dem ich mit der Mitteilung dieses Memorabiles etwas zu verstehen geben wollte, zeigte sich prompt vom Gegenteil überzeugt:„Wieso? Das kommt doch allen Beteiligten zugute. Ich habe selber geradezu dankbare Leute gesehen, die damit einkaufen gingen.“


Seitdem sind wir nicht mehr so gut bekannt miteinander.

Donnerstag, 24. Januar 2008

Xenophobie

= Fremdenfurcht.
Wie der Name schon sagt, haben die Fremden – Gottzeidank!- Angst vor uns.
Sonst müssten wir doch glatt so tun, als hätten wir Angst vor denen Ausländern, denen! Und ihrer Liebe zur Gewalt.

Ein Humorist


der bei keiner Sendeanstalt des Fernsehens ein Unterkommen gefunden hätte: Kafka
....Aus Kafkas:Ein Hungerkünstler
...“Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. Die schönen Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riss sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneut worden war, blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig geworden; und so hungerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte,und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand, nicht einmal der Hungerkünstler selbst wusste, wie groß die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer. Und wenn einmal in der Zeit ein Müßiggänger stehen blieb, sich über die alte Ziffer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn nicht der Hungerkünstler betrog, er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog ihn um seinen Lohn.
Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen
gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenützt stehen lasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiss,« sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, »wir verzeihen dir.« »Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert«, sagte der Hungerkünstler. »Wir bewundern es auch«, sagte der Aufseher entgegenkommend. »Ihr sollt es aber nicht bewundern«, sagte der Hungerkünstler. »Nun, dann bewundern wir es also nicht,« sagte der Aufseher, »warum sollen wir es denn nicht bewundern?« »Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal einer,« sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?« »Weil ich,« sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungre.

Was ihn mir empfiehlt:
1) Der gute Mann hatte Lust, aufs Hinausspringen aus der Totschlägerreihe
Es hat dann aber doch eine ganze Weile gedauert bis es ihm endgültig nicht mehr schmeckte.
2) Mit der Einsamkeit und ihrem Management kannte Kafka sich aus:...“daß wir verzweifelte Ratten, die den Schritt des Herrn hören, nach verschiedenen Richtungen auseinanderlaufen, z. B. zu den Frauen...“
3) „Das Familienrudel zieht weiter“ und zwar vom Schloss in die Strafkolonie zum nächsten Prozess.
Kein Wunder, dass der Bericht an eine Akademie keinen Ausweg, geschweige einen Weg gefunden hat.

Der Mann hatte einen grimmigen Humor.
Ach ja, es gibt davon auch Verfilmungen, die in einer lockeren Ähnlichkeitsbeziehung zum Leseerlebnis stehen.

Mittwoch, 23. Januar 2008

Realsatiriker

pflegen des Irrsinns verdächtigt zu werden: Jonathan Swift

Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, der wird bestimmt die fidelsten Gesichter in den Trauerkutschen sehen.

Wenn jemand mich von sich fernhält, tröste ich mich damit, dass er auch sich von mir fernhält.

Trefflich bemerkt, sage ich bei der Lektüre einer Stelle , an der die Ansicht des Autors mit der meinen übereinstimmt. Sind wir uneins, so erkläre ich, hier irre er.


Das Meisterwerk des Sarkasmus schlechthin:
„Bescheidener Vorschlag, wie Kinder armer Leute in Irland davor bewahrt werden sollen, ihren Eltern oder dem Staat zur Last zu fallen, und wie sie dem Gemeinwesen zum Nutzen gereichen können."
Viele Fliegen gleich mit einer Klappe: man stelle doch einfach das arbeitslose Kroppzeug dem Adel als Wildbret für die Jagd zur Verfügung, oder als nicht gerade billige Delikatesse für den verwöhnten Gaumen des Gutsbesitzers. Wenn man die elterlichen Produzenten der Ware ihr Produkt gleich selber aufessen ließe, damit sie dem Sozialstaat nicht immerzu auf der Tasche liegen, wäre das volkswirtschaftlich einfach kontraproduktiv. Export dieses Nahrungsmittels wäre eigentlich die optimale Lösung der Überbevölkerungsproblematik und des damit einhergehenden Problems der Kriminalität unter Jugendlichen....(Das kommt einem alles irgendwie so unheimlich bekannt vor.)
...Und so weiter mit den Begründungen, an denen es noch nie gefehlt hat, wenn aus der Not der Menschen eine Tugend ihrer Herrschaft herbeigefabelt werden sollte.
Eigentlich schade, dass sein Gulliver in der klimaktisch sich aufgipfelnden Menschheitssatire an Biss gewinnt, was er an produktivem Hass gegenüber dem zu destruierenden Objekt verliert. Angesichts dessen lobe ich mir doch ein politisches Pamphlet wie den Modest Proposal über den grünen Klee. Schon deswegen, weil es bei der Polemik um was geht, was ihre wohlerzogenen Verächter gerne übersehen machen würden.
Aber in seiner Menschheitssatire ist er vielleicht doch zu retten, wenn man ihn als Stichwortgeber sieht für spätere Responsorien, die es noch sehr viel düsterer treiben. Caraco beispielsweise. Man wird sehen.
Die Frage des möglichen Irrsinns ist bei einem Traktat-Titel wie: “Abschweifung über Wesen, Nutzen und Notwendigkeit von Kriegen und Streitigkeiten“ sehr leicht zu entscheiden.
Da die meisten Leser ohnehin von der Untersuchungsunwürdigkeit, weil Längst-Entschiedenheit der Sache überzeugt sind, ist selbstverständlich der Autor verrückt.

Hohnlächelnd sich der Staatsmann zeiht
Des Fehlers seiner Redlichkeit.
Er tue nichts zu üblem Zwecke,
Was seine Freunde von ihm schrecke.
Sein einzig Ziel sei´ s, zu vermehren
Des Volkes Wohl, des Fürsten Ehren....“


Da steht übrigens - auch nicht im Weiteren - nichts davon, dass der Mann ein Gauner sei.

Es dürfte sich Swifts Sermocinatio (Rollenrede) an seinem Grabe( in den „Versen auf den Tod von Dr. Swift“) nicht allzu sehr vertan haben bei der Charakterisierung seines Nachruhms.

Hätt er´ s Experten überlassen!
Ein gutes Hundert gab´ s von diesen;
Auf ihn war´ n wir nicht angewiesen.
Mag sein, er hatte ein´ ges Wissen,
Jedoch an Takt ließ er´ s vermissen.
Seine Satire war empörend
Und wirkte maßlos ruhestörend;
Hof, Hochfinanz und Militär –
Er zog nach Laune drüber her.
Nur Geifersucht konnt ihn verführen...“


Weil das so ist, kennt jeder den Gulliver nur in der expurgierten Kinderbuchfassung.

Wahl


Stammverwandt mit „Wählen“.
Daher der unausrottbare Irrglaube, beim Abliefern seines Interesses am Hofe des höchsten könne man sich was heraussuchen.
Wie im Goldgräbercamp genügt für die Analphabeten der Ermächtigung ein schlichtes Kreuz.

Waffenstillstand
Die Fortführung des Krieges mit den Mitteln der Diplomatie.

Weltanschauung
Wie unterschiedlich sind doch die Anschauungen und Visionen, die einer hat, wenn er nichts mehr sieht!
Mir wäre es ja auch lieber, ich hinge von einem Gotte ab, als ausgerechnet von solchen Köpfen, wie ich sie Abend für Abend auf der Mattscheibe reden sehe.

Widerspruch
Die Redensart und Handlungsmaxime "Jeder ist sich selbst der Nächste." und das gleichzeitige Wettern gegen die egoistische Ellenbogengesellschaft wird heutzutage - bei der allgemeinen Laxheit im Umgang mit Denkkategorien - für einen eklatanten Widerspruch gehalten.
Gegen das unaufhaltsame Ausufern von angeblichen Widersprüchen sei unfreundlich dekrethaft und sehr von oben herab, ja geradezu arrogant klargestellt, daß das Ideal des Altruismus sehr gut zusammengeht mit der Alltags-Realität des Einzelkämpfers und Glücksritters:
Egoismus ist der Altruismus, den ich mir aus karitativen Rücksichten selbst zukommen lasse.
Man hat ja schließlich Pflichten gegenüber sich selbst.

Wirtschaftsethik
Obwohl die Moral in der Interessensphäre von Kauf und Verkauf nichts zu suchen hat, gibt es eine wissenschaftliche Disziplin dieses Namens. Staatlich gefördert sinnt man jetzt auch in Kommissionen nach über die Bedingungen der Möglichkeit einer Ethik alldorten. Man darf auf die Resultate gespannt sein.
Ganz spontan fällt mir dazu ein in der Sache liegendes, unumgängliches Teilergebnis ein: wenn die Moral in einer Wirtschaft sich dazu entschließt, praktische Geltung zu beanspruchen, kommt es regelmäßig zur Wirtshausschlägerei.


Wörterbuch
Eine Sedimentschicht verfestigter Durchgesetztheiten, die dieses Wörterbuch hier so dringend nötig machen.

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