100 schwarze Meisterwerke
die natürlich wieder keiner bemerkt haben will, empfiehlt sich für die Wonnen einer unerquicklichen Erbauung das
Brevier des Chaos von Albert Caraco.
„Ich bin einer der Propheten meiner Zeit, und da ich nicht das Wort ergreifen darf, schreibe ich, was ich zu sagen hatte. Um mich herum wechseln Wahnsinn, Dummheit und Unverständnis mit Lüge und Berechnung ab, wobei die Tugenden die einen genauso wie die anderen unterstützen, denn das Tragische bei der Sache und was die Moralisten leugnen, ist, dass die Welt von Tugenden überquillt, ich vermute, dass man ihrer niemals mehr sah. Ungeachtet so vieler Tugenden gehen wir dem Chaos entgegen, so viele Tugenden bewahren uns nicht vor dem allumfassenden Tod, und ich frage mich schließlich, ob die Tugenden nicht überflüssig sind zwischen uns selbst und der Kohärenz, dem Maß der Objektivität? Die Tugenden retten uns nicht vor der Ordnung, und die Ordnung bedient sich ihrer, um uns zugrunde zu richten, wir sind jetzt die Geprellten eines Systems, das uns über unsere Interessen täuscht und uns den seinigen opfert, indem es uns überzeugt, sie seien auch die unsrigen. So glauben wir alle das Rechte zu tun und betrügen uns selbst um die Wette, wobei der Wahnsinn unsere Belohnung und unsere Atmosphäre die Dummheit ist, wo Unwissenheit die erste Pflicht zu sein scheint, damit Lüge und Berechnung freie Hand haben. Wir sind immer noch Kinder und werden es bleiben, solange es die Familie gibt....
Wir verblöden um die Wette, ganz gleich auf welchem Gebiet, und unsere Erfindungen helfen dem Paradox nicht ab. Immer dümmer inmitten unserer immer intelligenteren Mittel, werden wir uns in die Gesetze dieser Mittel fügen, zu unserer eigenen Enttäuschung, unsere Staatsoberhäupter werden ihre ersten Diener sein und uns in eine Sklaverei ohne Grenzen bringen.
Wir sind gegenwärtig immer noch so blind, dass wir die innig lieben, die uns irreführen, wir werden ihnen ihren Verbrechen und Schwächen zum Trotz alles verzeihen, wir halten immer noch an ihren unsinnigen Lehren fest und trotten unter ihrem Krummstab einher, als wären sie Hirten und wir unwürdige Tiere Und dabei werden sie uns ins Verderben führen, diese unfehlbaren Männer, die wir für gottgleich halten, sie irren sich nun schon seit Generationen, und wir weigern uns, es zu begreifen, wir opfern ihnen unsere Interessen und sogar unsere Ehre, in Kürze werden wir ihnen unsere Zukunft opfern. Die Geschichte kennt wenige derartige drastische Fälle von Geistesgestörtheit.
Ich werde rasend, wenn schwachsinnige Gläubige mir ihre Gedanken herplappern, ich erschrecke angesichts ihrer Verhärtung und begreife ihren Wahnsinn nicht, sie vergegenwärtigen mir die Alten, die man in den Asylen sieht, aufbrausend und Steine sammelnd. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, wenn sich Familien am Sonntag zur Kirche begeben, alles als ob nichts wäre, ich habe Mühe zu glauben, dass es sich um menschliche Wesen handelt, diese Unglücklichen bringen mir die Insekten wieder in Erinnerung, die man dabei beobachtet, wie sie sich gegenseitig verschlingen, jenes nicht von seiner Beute lassend, indessen das andere ihm die Eingeweide auffrisst...
Ich mißtraue dem Ideal und ziehe die zynischen Peiniger diesen in die blaue Blume verliebten Ungeheuern vor, diesen Kleinbürgern, die in Worten zaghaft und fähig zu grausamen Untaten sind, dieser mit einer schönen Seele versehen Horde engherziger Dämonen, die es peinlich genau mit Nebensachen nimmt. Was wollen Sie? Ich hasse die Gemeinplätze, und unser Jahrhundert lehrt uns, dass sich die Schlimmsten seiner bedienen, dort verkriecht sich die Schurkenbande, die die Mücken durchsiebt, um alles, ganz gleich was, zu verschlingen, wenn der Moment gekommen ist.“
In den Künsten der Verneinung hat es dieser späte Nachfahre der Gnosis weit gebracht. Wie ihm scheint es manchem nicht ausgemacht, ob die Gnosis (mit ihrer Entlarvung der Ordnung der von einem Demiurgen geschaffenen Welt als auf der Grundlage von Terror und Lüge beruhend ) nicht doch der Wahrheit und Selbstachtung näher kommt, als die Legionen derer, die erstere verächtlich beschniefen, so sie nicht die ihre ist, und letztere als unter den Selbsthass fallend denunzieren.
Wie Melvilles Bartleby, der Schreiber, der mit seinem Lieblingssatz „I would prefer not to“ die Weltaskese zur metaphysischen Irritation vorantreibt, hält Caraco den nachtschwarzen Vor-Posten der unnachgiebigen Provokation der Normalität und der nicht mehrheitsfähigen Subversion der Macht bis zur letzten Konsequenz, dem Aufruf zum Zeugungsverzicht.
Leicht zu erraten, dass er da ganz schnell allein da steht.
Die obigen Kostproben stehen weniger für eine mir genehme Kronzeugenschaft, obwohl ich ja schlecht verhehlen kann, dass der von einer Metaphysik des Dämons Umgetriebene mir sympathischer ist, als die rosenwangige Naivität.
Ich habe mir vielmehr die Arbeit des Zitierens gemacht, weil das Internet ja nicht unbedingt auf dem Niveau der Städtischen Leihbüchereien vor sich hinzuwesen braucht. Starker Tobak einer umfassenden Verweigerung wie der von Caraco war bislang im Internet nicht aufzufinden. Vielleicht machen die obigen Kostproben ja Appetit auf mehr von solch stärkendem Tonikum.
Denn gegen die kommenden Schrecken und Alpträume braucht es die Breviere und schwarzen Litaneien der Bloy, Céline und Bernanos, die auch gerne den SCHRUMPFGERMANEN und seine zahllose Verwandtschaft unter den Gartenzwergen zur Besichtigung freigaben.
Man steht dann nicht ganz so allein da.
Von einem kurzsichtigen Mönch wurden die Pinguine versehentlich getauft. Es bleibt Gott - wegen gewisser damit verbundener Unstimmigkeiten laut der sich mit ihm befassenden Wissenschaft - gar nichts anderes übrig, als die Pinguine in Menschen zu verwandeln.
Es folgt eine frankreich-fokussierte Menschheitsgeschichte, die mit einer Anzahl gehätschelter Einbildungen über die moralischen Qualifikation dieser Spezies aufräumt.
„An einem Herbstmorgen nun sah der selige Mael, der mit einem Mönch von Yvern, namens Bulloch, das Tal der Clange durchwandelte, über den Weg Rotten von wildscheuen Menschen gehen, die Steine mit sich führten. Und sogleich hörte er von überall Schreie und Klagen aus dem Tal zum ruhigen Himmel dringen. Und er sprach zu Bulloch: ,,Zu meiner Trauer gewahre ich, mein Sohn, daß die Inselbewohner, seit sie Menschen geworden sind, mit geringerer Weisheit handeln denn früher. Als sie Vögel waren, zankten sie sich nur in der Jahreszeit der Liebe. Und jetzt streiten sie immerzu. Sommer und Winter sind sie aufeinander erbost. Wie sehr sind sie von jener friedlichen Hoheit abgefallen, die auf der Versammlung der Pinguine lagerte und sie dem Senat einer weisen Republik ähneln ließ.
Blicke, mein Sohn Bulloch, nach der Surelle hin. Just sind in dem kühlen Tal ein Dutzend Pinguinenmänner beschäftigt, einander mit Spaten und Hacken zusammenzuhauen, mit denen sie besser die Erde aufgraben würden. Doch grausamer noch als die Männer zerreißen die Weiber mit ihren Nägeln das Gesicht der Feinde. Weh, mein Sohn Bulloch, warum morden sie also?"
,,Aus Genossenschaftsgeist, mein Vater, und in Ahnung der Zukunft", erwiderte Bulloch. ,,Denn der Mensch ist seinem Wesen nach ahnungsvoll und gesellig. So ist nun einmal sein Charakter. Ohne eine bestimmte Aneignung von Dingen kann er selbst sich nicht vorstellen. Die Pinguine, die Ihr seht, Meister, eignen sich Ländereien an."
,,Könnten sie das nicht minder gewaltsam tun?" fragte der Greis. ,,Mitten im Kampf tauschen sie Schimpf und Drohung. Ihre Worte kann ich nicht unterscheiden. Dem Ton ist zu entnehmen, daß sie zornig sind."
,,Wechselseitig klagen sie sich des Diebstahls und des Raubes an", erwiderte Bulloch. ,,Dies ist der allgemeine Sinn ihrer Reden."
Da stieß der fromme Mael, die Hände ringend, einen großen Seufzer aus und rief:
,,Siehst du nicht, mein Sohn, diesen Rasenden, der mit den Zähnen die Nase seines hingeschleuderten Gegners zerbeißt, und den dort, der eines Weibes Kopf unter einem riesigen Stein zermalmt!"
,,Ich sehe sie", antwortete Bulloch. ,,Sie schaffen das Recht. Sie gründen das Eigentum. Sie errichten die Prinzipien der Zivilisation, den Unterbau der Gesellschaft, die Grundlagen des Staates."
,,Wieso denn?" fragte der Greis Mael.
,,Indem sie ihre Fluren abgrenzen. Das ist der Ursprung jeder Polizei. Eure Pinguine, Meister, vollziehen die erhabenste Tätigkeit. Ihr Werk wird die Jahrhunderte hindurch von den Gesetzesforschern geweiht, von den Behörden geschützt und bekräftigt werden."
Während der Mönch Bulloch diese Worte sprach, stieg ein großer weißhäutiger, rothaariger Pinguin ins Tal hinab, einen Baumklotz auf der Schulter. Er näherte sich einem kleinen, in der Sonne völlig verbrannten Pinguin, der seinen Lattich bewässerte, und schrie ihn an: ,Dein Feld gehört mir!"
Und als er dieses machtvolle Wort verkündet hatte, hieb er mit seiner Keule auf den Schädel des kleinen Pinguins, der tot niederfiel über den von seinen Händen gepflegten Acker.
Bei diesem Anblick schauderte es den frommen Mael am ganzen Leib, und er vergoß stürzende Tränen.
Und mit einer Stimme, die Grauen und Angst erstickten, sandte er zum Himmel das Gebet:
,,Mein Gott, Herr, der du des jungen Abel Opfer empfangen, der du Kain verflucht hast, räche, o Herr, diesen unschuldigen, auf seinem Felde hingeschlachteten Pinguin und gib dem Mörder deines Armes Wucht zu fühlen! Ist ein Verbrechen hassenswerter, kann etwas deine Gerechtigkeit schwerer beleidigen als dieser Mord und dieser Diebstahl?"
,,Nehmt Euch in acht, mein Vater", sprach Bulloch sänftiglich. ,,Was Ihr Mord und Diebstahl nennt, sind in Wahrheit Krieg und Eroberung, die geheiligten Fundamente der Kaiserreiche, die Quellen aller menschlichen Tugend und Größe. Bedenkt zumal, daß Ihr, wenn Ihr den großen Pinguin tadelt, das Eigentum in seinem Ursprung und in seinem Prinzip angreift. Unschwer kann ich Euch das beweisen. Den Acker pflegen ist ein Ding, den Acker besitzen ein zweites. Und diese beiden Dinge dürfen nicht durcheinandergebracht werden. In Sachen des Eigentums ist das Recht des ersten Besitzers unsicher und schlecht begründet. Das Recht der Eroberung hingegen ruht auf soliden Grundlagen. Es ist allein zu achten, weil es allein sich Achtung erzwingt. Des Eigentums einziger, herrlicher Ursprung ist die Gewalt. Es wird durch Gewalt geboren, durch Gewalt bewahrt. Und so weit ist diese erhaben, sie weicht nur einer Gewalt, die noch größer ist. Deshalb gebührt sich's zu sagen, daß, wer besitzt, edel ist. Und dieser große Rothaarige hat vorhin, indem er einen Ackersmann tötete, um ihm sein Feld zu rauben, auf Erden ein sehr edles Haus begründet. Ich gehe und wünsche ihm Heil." Hierauf näherte Bulloch sich dem großen Pinguin, der an der blutgetränkten Ackerfurche stand und sich auf seine Keule lehnte.
Und Bulloch verneigte sich bis zum Boden und sprach:
,,Herr Greatauk, schrecklicher Fürst, ich habe Euch jetzt als dem Begründer gesetzlicher Macht und erblichen Reichtums gehuldigt. In Euer Feld verscharrt, wird der Schädel des niederen Pinguins, den Ihr erschlagen habt, für immer die geheiligten Rechte Eurer Nachkommenschaft auf diese durch Euch geadelte Erde bezeugen. Heil Euren Söhnen und Eurer Söhne Söhne! Sie werden Greatauk heißen, Herzöge von Skull, und über die Insel Alka gebieten."
Dann erhob er die Stimme und wandte sich zu Mael, dem frommen Greis.
,,Mein Vater, segnet Greatauk! Denn alle Macht kommt von Gott."
Mael blieb unbeweglich, stumm und starrte zum Himmel hinauf, er empfand schmerzlichen Zweifel an der Lehre des Mönches Bulloch. Und doch sollte diese Lehre in den Zeiten der hohen Zivilisation obsiegen. Bulloch kann damit als der Schöpfer des bürgerlichen Rechts in Pinguinien betrachtet werden."
Hier noch eine kleine paradigmatische Parlamentsrede eines FDP lers, die – wie man gleich sehen wird – seit ihrer Aufzeichnung vor nunmehr 100 Jahren nicht geändert zu werden brauchte.
,,O Mael, mein Vater, ich schätze, daß es gerecht ist, wenn jeder zu den öffentlichen Ausgaben und zu den Kosten der Kirche beiträgt. Ich für meine Person will mich zum Wohl meiner pinguinischen Brüder alles dessen entäußern, was ich besitze, und, müßte es sein, so gäbe ich frohen Mutes sogar mein Hemd. Alle Ältesten des Volkes sind wie ich bereit, ihr Hab und Gut zu opfern; und gegen ihre unbedingte Treue zum Vaterland und zum Glauben ist kein Einwand. Wir müssen also nur das öffentliche Wohl erwägen und tun, was es heischt. Nun, mein Vater, es heischt, es fordert, daß man nicht viel von denen verlange, die viel besitzen, denn dann würden die Reichen weniger reich und die Armen noch ärmer. Die Armen leben von der Reichen Gut; deshalb ist dieses Gut geheiligt. Rührt nicht daran; es wäre grundlose Bosheit. Nehmt Ihr von den Reichen, so bringt Euch das keinen großen Nutzen; denn ihrer sind nicht viele. Und Ihr würdet im Gegenteil Euch jede Hilfsquelle versperren und das Land ins Elend senken. Wenn Ihr aber von jeglichem Einwohner einen geringen Beistand verlangt, ohne sein Hab und Gut zu rechnen, so werdet Ihr genug für Euren Bedarf gewinnen, und Ihr braucht Euch nicht nach dem Besitz der Bürger zu erkundigen, die jede Nachforschung dieser Art als hassenswert und lästig betrachten würden. Wenn Ihr jedermann gleichmäßig und leicht besteuert, so schont Ihr die Armen, da Ihr ihnen die Güter der Reichen laßt."
In diesem galligen Parabel - Roman entwirft Anatole France eine apokalyptische Zukunftsvision mit der pessimistischen These, dass die Ungerechtigkeit der Welt nicht abzuschaffen sei und dass auf den Untergang eines korrupten Systems nur eine neue korrupte Ordnung folge, da die Menschen sich darauf versteifen, aus den Fehlern der Vergangenheit nichts zu lernen. Die Geschichte der vermenschlichten Pinguine ist eine von Ironien strotzende, gesellschaftskritische Satire vor allem auf die französische Geschichte und Kultur, ihre Mythen und Selbstmythisierungen, sowie eine dystopische Vision über die Folgen der Gewinnsucht.
Nichts von all dem gefällt mir als Theoretiker.
Als Leser eines großartigen Stilisten und Rationalisten fühle ich Dankbarkeit darüber, dass er und ich, also wir beide schön gemütlich in der Hölle beisammen sitzen und die Sache noch einmal durchgehen werden.
als Kulturprogramm, oder „Ich bin in einer Irrenanstalt!“
Elias Canettis Blendung
Canetti ist der einzige Dichter-Denker, der den Hass so ernst genommen hat, dass er ihm und seinen Verzweigungen ein Lebenswerk gewidmet hat.
Das macht ihn notwendigerweise zu einem scharfsichtigen Moralkritiker. Denn die Moral ist immer schon mit ihm fertig, bevor sie ihn ins Auge zu fassen gedenkt. Sie weiß über ihn eigentlich nur zu berichten, dass er in Abwesenheit und Mangel von Liebe bestehe.
Der von Canetti gesichtete Zusammenhang von Hass und dem Stachel des Befehls, der in jedem gesellschaftlichen Machtverhältnis schwärt, verwahrt sich gegen solche Zumutung, die Hand liebend küssen zu sollen, die einen züchtigt. Geht also über die dumpfen Empfehlungen von Leute-Ausrichtern insofern hinaus, als die wohlbekannte Dialektik der Moral hinterfotzig sistiert wird zugunsten der Gratifikation, die in ihr steckt.
Keiner der schwarzen Moralisten hat das Menschenfresserische der Moral, also ihre Funktion und Wirkung so inständig verfolgt wie Canetti. Hier ein paar Facetten seiner giftigen Beobachtungen.
- Er betrinkt sich an den Fehlern der anderen, ein Trunkenbold der Moral.
- Ein Mensch, der sich allmählich in ein schlechtes Gewissen verwandelt. Aber es ist ihm so wohl dabei.
- Er hält sich für besser als sich selbst, es ist ihm angenehm, eine so gute und eine so schlechte Meinung von sich zu haben.
- Das Schuldgerede, durch das man sein Dasein fristet.
- O guter Mensch, wen noch willst du in deinen Bettelsack stecken?
- Er tröstet sich für seine Erfolglosigkeit mit Reinheit.
- Ich habe es satt, dass jeder Mensch alle anderen immer nur seiner eigenen schlechten Eigenschaften beschuldigt!-
Was immer ihre Tätigkeit, die Tätigen halten sich für besser.
Das gilt selbstverständlich für sämtliche Generäle, Puritaner, und alle möglichen anderen Superlative auf zwei Beinen, die immerzu instinktiv das Richtige tun: -Alle vergeudete Verehrung.
Canettis Folgerung aus diesem Befund: wenn man denn schon menschen- und selbstbildlich aufeinander losgehen muß, dann wäre es das Ungefährlichste, etwas zu hassen, dem damit kein Eintrag geschieht: Kampf dem Tod.
Listig ist das schon, aber genau so ein Moral- Reetablierungstrick wie bei Nietzsche, der eine konkurrierende Privatmoral gegen die soeben von ihm in Grund und Boden kritisierte entwirft, als ob er eine höhere Tochter wäre, die unter die Veganer geht, weil ihre Mutter was mit dem Fleischer hat.
Man halte sich in all diesen Fällen lieber an die bessere Hälfte der bürgerlichen Selbstkritik, ihre analytische Schärfe, bevor sie in den nächsten Fehler verfällt.
Moral pflegt in Büchern – wen wundert´ s? - als Sprache aufzutauchen. Und es wird einem unheimlich zu Mute, wenn in Canettis Roman Die Blendung die moralische Phrase als nicht durchschaute Welt der Interessen vorgeführt, aber von keinem der Akteure durchschaut wird. Im Kopf des Büchernarrs Kien, der - getrennt von der Welt - ein traditionalistisches Bücheruniversum seit Konfuzius bereit hält, geht unverhältnismäßig mehr vor sich, als in der verzerrten Kommunikation mit seiner angetrauten Haushälterin drin ist.
Dem Grundgesetz der Groteske gemäß suchen die Figurenperspektiven dieses Romans vergeblich nach der Geltung der von ihnen für gültig erachteten Werte und sind regelmäßig schwer in ihrer Person gekränkt, wenn sich wieder mal erweist, dass nirgends gilt, was alle propagieren. Man lese und staune über folgende Verarbeitung eines Zwists um Sitzplätze in der Straßenbahn, den eine Mutter aus dem ihr ja wohl zustehenden Muttertrieb für ihre Kinder anzettelt. In der - im Streit zu Schaden gekommenen - Kontrahentin Therese lesen wir Folgendes vorgehen:
„Man hatte sie beleidigt, sie musste sich wehren. Ihre Erwiderung war so unfein wie der Angriff. Sie trug keine Schuld. Therese sank auf ihren Sitz zurück. Niemand, auch der Herr neben ihr, dem sie den Platz verschafft hatte, nahm für sie Partei. Die Welt war von Kinderfreundlichkeit verseucht.“
Das Zitat stehe symptomatisch für eine Parabel über einen weiblichen „Herrn Karl“ und dessen erbleichen machende Rechtschaffenheit. Da alle Figuren auf der Gültigkeit dessen beharren, was ihnen die Wirklichkeit in der Geltung vorenthält, geht - irgendwie logischerweise - diese Weltusurpation unter der Flagge enttäuschter Idiotismen schließlich in Flammen auf. Wie der gebildete Wiener sagt: vorläufig definitiv.
Man beachte, das sind keine Blinden, die da herumtapern.
Da wurde laut Titelmetapher höchst aktiv geblendet. Von wem? Und da will es dem deutenden Blick so scheinen, als ob das Thema sei: selbstinduzierte Beihilfe zur Realitätsverkennung... und unterlassene Hilfeleistung bei entgleisten Selbstmythisierungen...und innerliches Einverständnis unter consenting adults, denen am Verstehen ihrer einsamen Kopfinhalte nichts liegt, weil diese - methodisch ihren abstrakten Wahn pflegenden Gestalten - mit sich und ihrem entfremdeten Aneinander - Vorbei sturzzufrieden sind.
kriegt einen Orden, oder: Die maulstopfende Rache der Sprachlosen an Uwe Dicks Individualanarchismus
Dem Schreihals, der da meint, etwas erinnern zu müssen, was voll an den laufenden Geschäften vorbeiläuft, wird gemeinhin ein: „Ja wie soll es denn anders gehen?“ entgegengehalten. ("Ja, was hat er denn bloß immer gegen den Benedikt?" hieß das bei Karl Kraus.)Und die nicht ganz so pfiffigen Aufsässigen tappen prompt in die Falle, ein idealiter durchaus teilbares Anliegen zu formulieren, zu denen nur leider kein bekannter praktischer Weg führt.
Der Noblesse des Anliegens wegen kriegt ein solcher Rebell dann, wenn es schlimm kommt, ganz zu Recht die Schmach eines Verdienstordens vom Ministerpräsidenten feierlich an ihn hinangeredet und herablassend hinabgeheftet.
Und alle sind’s zufrieden, bis auf den, der sich fragen muss, was er denn da jetzt wieder falsch gemacht hat, wenn ihm plötzlich alle auf die Schulter klopfen. Er pinkelt den vorgefundenen Verhältnissen ans Bein, und deren tragende Stützen lassen sich eine Laudatio auf ihn vom Germanistikprofessor anfertigen, die der Landesvater dann souverän verliest. Was ist denn da los?
Armer Uwe Dick! Dein Fehler war, dass du wohl selber die von dir benannten Schädigungen, die dich schreien machten, nicht für hinreichend erachtetest. (Dabei ist der Schrei die unverstellteste Lebensäußerung, die nun wirklich keiner Rechtfertigung bedarf.) Du aber musstest den Schädigungen auch noch das weihevolle Mäntelchen allgemein teilbarer Öko-Ideale und einer Erlebensauthentizität umhängen. An dieser staatsbürgerlich löblichen Heuchelei ist euereiner dann leicht zu packen. Und die ganze schöne Kritik an den laufenden Faschistereien, an geistig verlotterter Kirchengeilheit und an der Abschaffung der Welt durch und in den Medien geht nach hinten los.
Plötzlich ist die so was von gar nicht mehr da. Geradezu zu einem vergleichsweise nichtigen Anlass für menschheitlich Wichtigerem verflüchtigt. Schönes Beispiel für die Gewalttätigkeit der Ideale: sie machen jeden noch so ernsthaften Mucks einfach platt.
Die Logik im Vorgang: du und deine Gegner, ihr wart euch von vornherein in der Lagebeurteilung nicht einig. Bei klärendem Nachfassen hätte es Zoff gegeben, dass es nur so fetzt. Aber nur deine Gegner waren kluge Strategen. Statt dir den Grund fürs Wehgeschrei zu bestreiten belobigten sie die Schönheit des Schreis und gemeindeten dich in ihrer Aller Anliegen-Serienproduktion ein. Schön bös’ warst du wieder!
Man müsste dich eigentlich vor dir selber retten, wenn du’ s nicht selber schon sehr mehrdeutig und trefflich vorhergesagt hättest:
„Gehört schließlich zum Demokratieverständnis, dass jede Kehrseite ihre Medaille bekommt.“
Statt einer weiteren Goppelrede, hier ein paar reißerische Schmankerln dem Gedächtnis der Generationen zum Anbeißen anvertraut:
- Früher hängte man Brunnenvergifter, heute behängt man sie mit Verdienstkreuzen.
- Denn wer einen Dachschaden hat, der ist freilich offen für das Höhere.
- Am Anfang war die Sendung, und dann verging die Welt. So ist Karl Kraus bis heute aktuell. Und ein Scheusal. Denn nicht das Übel, sondern der’ s benennt, macht sich verhasst.
- Wer Sprache nicht will, der blöke als Stimmvieh sein Heil.
- "Das niemals vertagte Leben". Ach Uwe, das kapiert doch keiner!
Das Verarbeitungsmuster gibt´s doch gar nicht. Ich höre schon die Einordnungsrasterfahndung rattern: Lebensphilosophie, Vitalismus...Und wieso verirrt sich ein "vertagt" hierher. Diese immerwährende Justizsession gibt´s doch gar nicht!
Damit jetzt nicht alle gleich losrennen, die sowieso einen Grant auf Bayern als Teil eines größeren Deutschland haben, und sich Dicks Autobiographie „ohne Ich“ oder gar seine erfrischend anarchistelnde „Sauwaldprosa“ zulegen: a bissl kompliziert ist er halt schon zu lesen, der Uwe. Hier eine der weniger fordernden Stellen, die aber wenigstens andeuten könnte, was passiert, wenn stilbestimmender Bedeutungsüberschuss aus Portmanteau-Worten herausgekitzelt werden soll:
„Dies Ja zum Nein mit Witz und Galle; wissend dass es niemals mehrheitsfähig wird. Ergo: Biographie statt Karriere. Nur diese Haltung kann herausführen aus der sogenannten Identitätskrise, jener vielbequatschten Ausrede für jedermann, vom saturierten Doppelkinnhead obenauf...bis zum uniformierten Mob im staatlichen Ehrenschmutz".
Wer einen politisch aufgepimpten Arno Schmidt durchaus vertragen könnte und nicht gleich den schrägen Vogel in die Ecke schmeißt, wenn ihm ein poeta doctus mit einem „Canto für Ezra Pound“ kommt, der hat sehr viel länger an dem Werk zu lesen, als dessen Seitenzahl vermuten macht.
ist das Gerücht über den Marquis de Sade und seine „Juliette oder die Wonnen/ Vorteile des Lasters“
Wenn ich mich an den schwarzen Anthropologien der diversen tristen Schöngeister ergötze, ist das kein Bekenntnis zu irgendeinem Kronzeugen für das von mir möglicherweise geteilte finstere Menschenbild, sondern erst einmal ein literarisches Vergnügen. Ich behalte mir als Theoretiker vor, die Sphäre der Vorstellung getrennt zu halten von ihrer Indienstnahme für moralphilosophische/-theologische oder pädagogische Zwecke.
Schon die ganze Anlage dieses Reise- als Anti-Familienromans weist ihn als Gegenentwurf zu den unsäglichen Geschichten aus, die ihren Daseinsgrund in dem schließlich erfolgreichen Sieg der verfolgten Unschuld und sittenstrengen Tugend suchen und finden. Zu meinem innigen Behagen lese ich am Ende des Romans Juliettes tugendhafte Schwester Justine vom Blitz erschlagen, während der Ausbund an gewissenloser Triebhaftigkeit noch weitere zehn Jahre in Glück und Freuden schwelgen darf.
Die Demontage der üblichen Werte (Familie, Religion, Gesetz) folgt dem selben schwungvollen Muster. Es muss dem Marquis großes Vergnügen bereitet haben, denn er gibt sich noch nicht einmal die Mühe der späteren, naturalistischen Entlarver bei der Destruktion dessen, was eh schon mit den Blutströmen seit 1789 den Bach runter war. Das trennt ihn als Feudalen tatsächlich von den Betulichkeiten der Bürger Ibsen und Strindberg.
(Damit ich nicht gleich als Höllenhund ad acta gelegt werde: mir gefällt schon auch, wenn der Kasperl das böse Krokodil mit der Pritsche haut, und es beschleicht mich Genugtuung wenn der Bud Spencer die Bösen verdrischt. Aber auch da bin ich keineswegs davon überzeugt, dass die Bebilderung des Kulturmusters „positives Menschenbild“ eine senkrechte Auskunft über mich oder irgendwen sonst auf diesem Planeten ist.)
Auf ihren Reisen lernt die Titelfigur Juliette, die Auspinselung einer prinzipiell dämonisierten Triebsphäre, unter anderen grundlos niederträchtigen Triebheimern den Polizeipräsidenten Ghigi kennen. Nach dem Motto: „Eines der wichtigsten Gesetze der Natur ist, dass es nichts Unnützes auf der Welt gibt", steckt Ghigi die 37 römischen Krankenhäuser und Asyle für arme Mädchen in Brand. Der bedeutendste Physiker Europas, Graf Braciani, hilft ihm, „daß keines der durch die umsichtige Politik oder vielmehr durch die wollüstige Boshaftigkeit von Ghigi zu Tode verurteilten Opfer entkommt."
Wie man liest, das Werk weidet sich an der genüsslichen Ausmalung eines vorsätzlich einfältigen, nämlich alternativ destruktiven Naturbegriffs. Und das hat erst mal was Erfrischendes gegenüber der öden Naturschwärmerei eines Rousseau: “Alles im Universum zerstört sich, mit Ausnahme der profunden Gesetze des Gleichgewichts. Nur durch Missetaten erhält sich die Natur und erobert sie die Rechte zurück, die die Tugend ihr streitig macht. Wir gehorchen ihr also, wenn wir uns dem Bösen hingeben."
Nu mal langsam mit die Pferde!
Erst wird die „Natur“ mit einem freien Willen begabt, der sich zu Recht an den menschlichen Satzungen missetäterisch vergehe, und dann ist diese mit sich selbst gesetzmäßig im profunden Gleichgewicht schaukelnde üble Tante plötzlich allegorische Normfigur?
Dass noch niemand bislang auf den schwarzhumorigen Dreh hingewiesen hat, der aus lustvoller Hingabe eine neue Moral zu drechseln sich nicht ziert („Meine Lust ist mir Befehl“ ist schon eine der holdesten Drangsale!), mag an der schlechten Presse des Herrn Sade liegen, denn die sorgt gemeinhin konsensheischend für die üblichen Denkhemmnisse.
Was an sogenannten Monstrositäten passiert, soll kurz an einem gewissen Minski illustriert werden.
„Ich muß Ihnen jetzt...noch ein paar Enthüllungen über meine Person machen. Ich bin 45 Jahre alt, meine sexuellen Fähigkeiten sind so groß, dass ich niemals schlafen gehe, ohne zehnmal gespritzt zu haben. Es ist wahr, dass die große Menge Menschenfleisch, die ich esse, sehr zur Mehrung und Verdickung der Samenflüssigkeit beiträgt....Da ich hoffe, dass wir uns zusammen entleeren werden, ist es unbedingt notwendig, dass ich Ihnen die erschreckenden Symptome dieser Höhepunkte bei mir im voraus sage. Entsetzliches Geheul geht ihm voraus, begleitet ihn, und die Stöße des Samens, die in die Höhe schießen, spritzen oft fünfzehn- oder zwanzigmal hintereinander bis unter die Decke [... ]Niemals erschöpft mich die Vielzahl der Freuden [...]Was das Glied anbetrifft, von dem all das kommt, hier ist es“, sagte Minski, indem er eine Rute hervorholte, die fünfundvierzig Zentimeter lang war und zweiundvierzig Zentimeter Umfang hatte; obenauf saß ein purpurner Champignon, der so groß war wie ein randloser Hut...“
Wer nicht unbedingt auf Empörung aus ist, der dürfte dieser mit ernstem Gesicht vorgetragenen Groteske über einen abnorm gebauten Menschenfresser ohne die üblichen harten Grenzen, welche die Natur dem Manne setzt, zumindest ungläubig lächeln. Und das Werk selber hilft ihm dabei. Das Schöne am Rationalismus ist nämlich, dass er die Grenzen benennen kann, die dem, was seines Reiches nicht ist, gesetzt sind:
„Mäßigen Sie sich also", rät ein erfahrener Bösewicht Juliette nach einigen schlimmen Taten, „unglücklicherweise bieten sich uns die Verbrechen nicht im Verhältnis zu dem Bedürfnis an, das wir haben, sie zu begehen. Ist es nicht richtig, meine schöne Freundin, daß Sie bereits entdeckt haben, daß Ihre Wünsche Ihre Mittel übersteigen?"
Gesetzt den Fall, das Menschenbild vergäße, dass es Fiktion, Illusion, Imagination ist: die Vorstellung noch der gierigsten Transgression sieht sich auf die Begrenztheit der Physis verwiesen.
Wer also – aus welchen Gründen auch immer – den Ernst des Lebens in der Sphäre des diesmal unschönen Scheins auffinden will, der steht mit dem päpstlichen Index und anderen seelsorgerischen Bestrebungen auf einer Stufe, und nicht auf der Ebene des Textes. Ich nenne nur ein Beispiel aus der Rezeptionsgeschichte, das sich wegen seiner Prominenz anbietet.
Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ hat aus dem rabulistischen Naturgleichgewichts-Unfug des Herrn Sade philosophisches „Humankapital“ gegen den Faschismus verfertigt. Das ist als intellektueller Selbstrettungsversuch - vor der Bedrängnis einer ansonsten kapitulationsfreudigen Zeit - in die Gefilde der Philosophiegeschichte zunächst einmal eine durchaus unverächtliche Unternehmung gewesen.
Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass diese verbesserte Neuauflage des alten Urteils der - immer schon und von je her - profund Tieferen über den „Aufkläricht“ sich einen niederzumachenden Popanz ausgerechnet aus der Plunderkiste der Philosophie zurechtlegt, wenn es um Auskünfte über die weltgeschichtliche Aktualität geht: „Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen [bekundet] die Identität von Herrschaft und Vernunft.“
Das nenne ich, ein literarisches Konstrukt für bare Dolche nehmen. Mir, der ich nicht im Legitimationszwang eines Philosophen stehe, fallen 1000 Argumente ein, die sich alle dahingehend zusammenfassen lassen: wenn ich das selbe Ziel mit anderen Mitteln erreiche, erlaube ich mir ein abwägendes Grübeln.
Sade, der während der französischen Revolution als Mitglied des Justizapparats reichlich Gelegenheit gehabt hätte, sich an den - ihn in seinen Büchern begeisternden – Blut- und Spermaströmen zu besaufen, wurde wegen Saumseligkeit und als Opfer von Untätigkeitsbeschwerden, wenn es um die Vollstreckung von Todesurteilen ging, von seinem Posten geschasst.
Also etwas mehr Ernst, meine Herrn! Auf dem Papier eine sich als grenzenlos imaginierende Triebnatur sich belustigen zu machen, ist Welten fern von den Möglichkeiten der Inszenatoren der letzten beiden und folgenden Weltkriege.
„Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ ??? Das scheint mir ein arger Rückfall hinter die ältere Position der Frankfurter Schule, die noch von einer halbierten Aufklärung wusste, wenn es um eine Besprechung des gesellschaftlichen „Verhängnisses“ ging.
Oder sollte vielleicht doch Karl May den Hitler gemacht haben!?
Kein Kunstwerk, diese „Juliette“, dafür ist der bloße Gegenentwurf gegen den moralischen Familienroman zu trivialschematisch, aber doch ein bislang unübertroffener Beweis für den ebenso ohnmächtigen Idealismus des Bösen wie sein pfäffisches Gegenteil.
ist das absurde Brauchtum des klassischen Klassikers, oder „Weh dem, der Symbole sieht!“: Samuel Becketts „Watt“
„..Mr. Knotts Mahlzeiten machten kaum Mühe.
Samstag abends wurde eine Menge Nahrung zubereitet und gekocht, die genügte, um Mr. Knott eine Woche lang durchzubringen.
Dieses Gericht enthielt Nahrungsmittel verschiedener Art, wie Suppen verschiedener Art, Fisch, Eier, Wild, Geflügel, Fleisch, Käse, Obst, alles verschiedener Art, und freilich Brot und Butter, und es enthielt auch Getränke, denen am meisten zugesprochen wird, wie Absinth, Mineralwasser, Tee, Kaffee, Milch, Stout, Bier, Whisky, Cognac, Wein und Wasser, und es enthielt auch viel für die Gesundheit, wie Insulin, Digitalin, Kalomel, Jod, Laudanum, Quecksilber, Kohle, Eisen, Kamille und Wurmmittel, und freilich Salz und Senf, Pfeffer und Zucker, und freilich ein Tröpfchen Salizylsäure gegen die Gärung.
Alle diese Dinge und noch viele andere, die zu zahlreich sind, als dass sie hier erwähnt werden könnten, wurden in dem berühmten Topf innig miteinander vermischt und vier Stunden lang gekocht, bis die Konsistenz von Maische oder Mus erreicht war, und all die guten Sachen zum Essen und all die guten Sachen zum Trinken und all die guten Sachen für die Gesundheit wurden unwiederbringlich vermengt und in eine einzige gute Sache verwandelt, die weder Speise noch Trank, noch Arznei war, sondern eine ganz neue gute Sache, von der schon ein Löffel voll den Appetit gleichzeitig anregte und verdarb, Durst erzeugte und löschte, die Lebensfunktionen des Körpers gefährdete und förderte, und überdies angenehm zu Kopf stieg.
Watt fiel die Aufgabe zu, die Zutaten, aus denen sich dieses Gericht zusammensetzte, mit äußerster Genauigkeit zu wiegen, zu messen und zu zählen, und jene, die einer Zubereitung bedurften, für den Topf zuzubereiten und sie ohne Einbusse innig miteinander zu vermischen, so dass nichts mehr voneinander zu unterscheiden war, und sie zum Kochen zu bringen, und wenn sie kochten, sie am Kochen zu halten, und wenn sie gekocht waren, ihr Kochen zu unterbrechen und sie hinauszustellen ins Kühle, an einen kühlen Platz. Diese Aufgabe beanspruchte Watts Kräfte, die seines Geistes und die seines Körpers, auf das äußerste, so heikel und so schwer war sie. Und bei warmem Wetter geschah es bisweilen, während er mischte, bis zu den Hüften entblößt, und mit beiden Händen die große Eisenstange handhabte dass Tränen hinabfielen, Tränen geistiger Erschöpfung, von seinem Gesicht in den Topf, und von seiner Brust, und aus seinen Achselhöhlen, durch seine Anstrengungen hervorgerufene dicke Schweißperlen, ebenfalls in den Topf. Auch seine seelischen Reserven wurden auf eine harte Probe gestellt, so groß war sein Verantwortungsbewusstsein. Denn er wusste, so als hatte man es ihm gesagt, dass das Rezept dieses Gerichts seit seiner Zusammenstellung vor langer, langer Zeit nie verändert worden war und dass die Auswahl, die Dosierung und die Mengen der nötigen Zutaten mit der peinlichsten Genauigkeit berechnet worden waren, um Mr. Knott für eine Folge von vierzehn vollen Mahlzeiten, das heißt sieben vollen Mittagsmahlzeiten und sieben vollen Abendmahlzeiten, ein mit der Erhaltung seiner Gesundheit vereinbares Höchstmass an Genuss zu gewähren.Dieses Gericht wurde Mr. Knott kalt, in einem Napf, um Punkt zwölf Uhr mittags und pünktlich um sieben Uhr abends das ganze Jahr hindurch serviert.“
Watt ist einer der Diener von Knott. Watt, als der übliche Ritualist, macht sich und alles andere Dienstliche mit, ist dieserhalb weder glücklich noch unglücklich, es passiert halt das vorübergehende Vorkommende, abgesehen von dem, was nicht passiert und was sonst noch hätte passieren können. Es geschieht. Riten sind Handlungen, denen sorgsam jeder erkennbare Zweck wegoperiert wurde. Hier zum Zwecke der methodisch konstruierten Sinnlosigkeits-Stiftung.
Man muss also gewisse Qualifikationen als Leser mitbringen, wenn man es mit diesem Lesestoff aufnehmen will. Es darf einem nichts ausmachen, seitenweise Beschreibungsprosa darüber durchzustehen, dass Watt nach rechts gesehen hat, gefolgt von ebenfalls seitenweisen Reflexionen darüber, dass er doch ebenso nach links hätte schauen können und dass ihn dabei jemand hätte beobachten können, derjenige es aber auch hätte sein lassen können. Man muss also der Strukturleserei was abgewinnen können, um in den Genuss der Absurdität zu kommen, die unentwegt Konstrukte sorgsam und umsichtig aufbaut, nur um sie auf ihrem Höhepunkt der Komplexität ins Nichts verpuffen zu lassen. Wer den Absurdismus unterhaltsamer haben will, der lese Becketts Murphy. Niederschmetternd auferbaulich. Falsch: auferbaulich niederschmetternd!
By the way:
Das gellende Lachen
des Austrägers jenes wöchentlich angelieferten Pfundes von zeitungsförmigem Werbematerial, der mich bei meiner seit Jahrzehnten geübten Handbewegung erwischte, die sein mühsam Herangeschlepptes aus dem Briefkasten ungesichtet in den Papiercontainer entsorgte,
ist leider reine Literatur.
Ein Mensch, dem ich mit der Mitteilung dieses Memorabiles etwas zu verstehen geben wollte, zeigte sich prompt vom Gegenteil überzeugt:„Wieso? Das kommt doch allen Beteiligten zugute. Ich habe selber geradezu dankbare Leute gesehen, die damit einkaufen gingen.“
Seitdem sind wir nicht mehr so gut bekannt miteinander.
der bei keiner Sendeanstalt des Fernsehens ein Unterkommen gefunden hätte: Kafka
....Aus Kafkas:Ein Hungerkünstler
...“Er mochte so gut hungern, als er nur konnte, und er tat es, aber nichts konnte ihn mehr retten, man ging an ihm vorüber. Versuche, jemandem die Hungerkunst zu erklären! Wer es nicht fühlt, dem kann man es nicht begreiflich machen. Die schönen Aufschriften wurden schmutzig und unleserlich, man riss sie herunter, niemandem fiel es ein, sie zu ersetzen; das Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage, das in der ersten Zeit sorgfältig täglich erneut worden war, blieb schon längst immer das gleiche, denn nach den ersten Wochen war das Personal selbst dieser kleinen Arbeit überdrüssig geworden; und so hungerte zwar der Hungerkünstler weiter, wie er es früher einmal erträumt hatte,und es gelang ihm ohne Mühe ganz so, wie er es damals vorausgesagt hatte, aber niemand zählte die Tage, niemand, nicht einmal der Hungerkünstler selbst wusste, wie groß die Leistung schon war, und sein Herz wurde schwer. Und wenn einmal in der Zeit ein Müßiggänger stehen blieb, sich über die alte Ziffer lustig machte und von Schwindel sprach, so war das in diesem Sinn die dümmste Lüge, welche Gleichgültigkeit und eingeborene Bösartigkeit erfinden konnte, denn nicht der Hungerkünstler betrog, er arbeitete ehrlich, aber die Welt betrog ihn um seinen Lohn.
Doch vergingen wieder viele Tage, und auch das nahm ein Ende. Einmal fiel einem Aufseher der Käfig auf, und er fragte die Diener, warum man hier diesen gut brauchbaren Käfig mit dem verfaulten Stroh drinnen unbenützt stehen lasse; niemand wusste es, bis sich einer mit Hilfe der Ziffertafel an den Hungerkünstler erinnerte. Man rührte mit Stangen das Stroh auf und fand den Hungerkünstler darin. »Du hungerst noch immer?« fragte der Aufseher, »wann wirst du denn endlich aufhören?« »Verzeiht mir alle«, flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. »Gewiss,« sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, »wir verzeihen dir.« »Immerfort wollte ich, dass ihr mein Hungern bewundert«, sagte der Hungerkünstler. »Wir bewundern es auch«, sagte der Aufseher entgegenkommend. »Ihr sollt es aber nicht bewundern«, sagte der Hungerkünstler. »Nun, dann bewundern wir es also nicht,« sagte der Aufseher, »warum sollen wir es denn nicht bewundern?« »Weil ich hungern muss, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal einer,« sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?« »Weil ich,« sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuss gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungre.
Was ihn mir empfiehlt:
1) Der gute Mann hatte Lust, aufs Hinausspringen aus der Totschlägerreihe
Es hat dann aber doch eine ganze Weile gedauert bis es ihm endgültig nicht mehr schmeckte.
2) Mit der Einsamkeit und ihrem Management kannte Kafka sich aus:...“daß wir verzweifelte Ratten, die den Schritt des Herrn hören, nach verschiedenen Richtungen auseinanderlaufen, z. B. zu den Frauen...“
3) „Das Familienrudel zieht weiter“ und zwar vom Schloss in die Strafkolonie zum nächsten Prozess.
Kein Wunder, dass der Bericht an eine Akademie keinen Ausweg, geschweige einen Weg gefunden hat.
Der Mann hatte einen grimmigen Humor.
Ach ja, es gibt davon auch Verfilmungen, die in einer lockeren Ähnlichkeitsbeziehung zum Leseerlebnis stehen.
pflegen des Irrsinns verdächtigt zu werden: Jonathan Swift
Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, der wird bestimmt die fidelsten Gesichter in den Trauerkutschen sehen.
Wenn jemand mich von sich fernhält, tröste ich mich damit, dass er auch sich von mir fernhält.
Trefflich bemerkt, sage ich bei der Lektüre einer Stelle , an der die Ansicht des Autors mit der meinen übereinstimmt. Sind wir uneins, so erkläre ich, hier irre er.
Das Meisterwerk des Sarkasmus schlechthin:
„Bescheidener Vorschlag, wie Kinder armer Leute in Irland davor bewahrt werden sollen, ihren Eltern oder dem Staat zur Last zu fallen, und wie sie dem Gemeinwesen zum Nutzen gereichen können."
Viele Fliegen gleich mit einer Klappe: man stelle doch einfach das arbeitslose Kroppzeug dem Adel als Wildbret für die Jagd zur Verfügung, oder als nicht gerade billige Delikatesse für den verwöhnten Gaumen des Gutsbesitzers. Wenn man die elterlichen Produzenten der Ware ihr Produkt gleich selber aufessen ließe, damit sie dem Sozialstaat nicht immerzu auf der Tasche liegen, wäre das volkswirtschaftlich einfach kontraproduktiv. Export dieses Nahrungsmittels wäre eigentlich die optimale Lösung der Überbevölkerungsproblematik und des damit einhergehenden Problems der Kriminalität unter Jugendlichen....(Das kommt einem alles irgendwie so unheimlich bekannt vor.)
...Und so weiter mit den Begründungen, an denen es noch nie gefehlt hat, wenn aus der Not der Menschen eine Tugend ihrer Herrschaft herbeigefabelt werden sollte.
Eigentlich schade, dass sein Gulliver in der klimaktisch sich aufgipfelnden Menschheitssatire an Biss gewinnt, was er an produktivem Hass gegenüber dem zu destruierenden Objekt verliert. Angesichts dessen lobe ich mir doch ein politisches Pamphlet wie den Modest Proposal über den grünen Klee. Schon deswegen, weil es bei der Polemik um was geht, was ihre wohlerzogenen Verächter gerne übersehen machen würden.
Aber in seiner Menschheitssatire ist er vielleicht doch zu retten, wenn man ihn als Stichwortgeber sieht für spätere Responsorien, die es noch sehr viel düsterer treiben. Caraco beispielsweise. Man wird sehen.
Die Frage des möglichen Irrsinns ist bei einem Traktat-Titel wie: “Abschweifung über Wesen, Nutzen und Notwendigkeit von Kriegen und Streitigkeiten“ sehr leicht zu entscheiden.
Da die meisten Leser ohnehin von der Untersuchungsunwürdigkeit, weil Längst-Entschiedenheit der Sache überzeugt sind, ist selbstverständlich der Autor verrückt.
Hohnlächelnd sich der Staatsmann zeiht
Des Fehlers seiner Redlichkeit.
Er tue nichts zu üblem Zwecke,
Was seine Freunde von ihm schrecke.
Sein einzig Ziel sei´ s, zu vermehren
Des Volkes Wohl, des Fürsten Ehren....“
Da steht übrigens - auch nicht im Weiteren - nichts davon, dass der Mann ein Gauner sei.
Es dürfte sich Swifts Sermocinatio (Rollenrede) an seinem Grabe( in den „Versen auf den Tod von Dr. Swift“) nicht allzu sehr vertan haben bei der Charakterisierung seines Nachruhms.
Hätt er´ s Experten überlassen!
Ein gutes Hundert gab´ s von diesen;
Auf ihn war´ n wir nicht angewiesen.
Mag sein, er hatte ein´ ges Wissen,
Jedoch an Takt ließ er´ s vermissen.
Seine Satire war empörend
Und wirkte maßlos ruhestörend;
Hof, Hochfinanz und Militär –
Er zog nach Laune drüber her.
Nur Geifersucht konnt ihn verführen...“
Weil das so ist, kennt jeder den Gulliver nur in der expurgierten Kinderbuchfassung.
des Gemeinplatzes muss man einfach lieben, oder: Vorm Anruf des Absoluten platzt der Bourgeois vor Gemeinheit: Léon Bloy
Aus seiner „Exegese der Gemeinplätze“
MAN KANN NICHT ALLES HABEN
Richtig; zumal man ja schon das Gesetz auf seiner Seite hat....Darüber hinaus auch noch den Rest fordern hieße das Weltall verschlingen wollen. So ist der Bürger nicht. Verächter des Unendlichen und des Absoluten, weiß er sich zu beschränken. Wer wüsste es besser als er? Von Kind auf sorgt und arbeitet er einzig für die Errichtung von Schranken allenthalben.
Und man beachte die Mäßigung diese Gemeinplatzes. Es heißt nicht: man soll nicht, sondern: man kann nicht. Der Bürger sollte natürlich alles haben, da ihm ja alles gehört, doch kann er nicht alles packen und festhalten, seine Arme sind zu kurz.....
Nicht alles haben! Welches Verhängnis! Ich frage mich nur, wie dies Wort, diese gleichsam übernatürliche Beschwerde, die von Millionen Mäulern ohne Unterlass zu den Gestirnen empordringt, nicht die Gewölbe des Himmels zum Bersten bringt!“
ES KÖNNEN NICHT ALLE REICH SEIN
Scheint zunächst weniger absolut als der vorige, hat aber den Vorzug größerer Präzision. Im Grunde sind beide vollkommen identisch. Es lag daher nahe, sie nebeneinander zu stellen, sie zusammenzubringen, um zu zeigen, dass sie beide die gleichen Gefühle, die gleichen Gedanken wecken.
Denn hier muss es endlich gesagt werden, die Sprache der Gemeinplätze, die erstaunlichste aller Sprachen, hat, wie die der Propheten, die wunderbare Eigenschaft, immer dasselbe zu sagen. Da der Bürger, dessen Privileg sie ist, nur über einen ungemein bescheidenen Ideenvorrat verfügt, wie es sich schickt für einen Weisen, der mit einem Mindestmaß geistiger Tätigkeit auslangt, begegnet er diesen Ideen notwendig auf Schritt und Tritt. Wer dies nicht zu schätzen versteht, tut mir leid.. Sagt etwa eine Bürgersfrau: „Ich lebe nicht in den Wolken“, so darf man überzeugt sein, dass sie damit alles sagen will, alles sagt und gesagt hat, endgültig und für immer..
PRAKTISCH
Nach den Definitionen in den Wörterbüchern handelt es sich hier um nichts weiter als den Gegensatz zum sogenannten Theoretischen, übrigens eine nicht minder schätzenswerte Sache.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint der praktische Mensch als das Werkzeug zur Verwirklichung einer Idee oder zur Anwendung eines Gesetzes. Der praktische Mensch im höchsten Sinne wäre demnach der Henker.....
Im Grunde ist der praktische Mensch der eigentliche Halbgott der bürgerlichen Welt, der moderne Ersatz für den Heiligen. Die meisten zeitgenössischen Denkmäler werden zu Ehren praktischer Menschen von anderen praktischen Menschen, errichtet, die ihr Handwerk verstehen und keine Schlafmützen sind.
Ein Hausherr, der mitten im Winter die Kranken und Hungernden auf die Straße werfen lässt, ist ein durch und durch praktischer Mensch, ... Was diesen Mann so hoch hebt, ist, dass er ein Herz hat, manchmal sogar ein überaus gefühlvolles Herz, und dass er sich Zwang antun muß, um nichts davon merken zu lassen...
DER PRINZIPIENREITER
Eine Art Reitkunst, die ausschließlich dem Bürger vorbehalten ist. Sie ist garantiert sicher. Nie hat man gehört, dass der also Berittene aus dem Sattel geflogen ist. Handelt es sich doch um trefflich dressierte Prinzipien! Das Reittier hat außerdem noch den Vorzug, dass es nichts kostet, es sucht sogar seinen Reiter!...
Die Prinzipien, auf denen der Bürger reitet, sind die unübertrefflichen, nicht einholbaren Rennpferde des Todes, die er im Stall seines Herzens verwahrt hält.
MAN MUSS MIT DEN WÖLFEN HEULEN
Eine kostbare Maxime, die aus der Hinterlassenschaft eines alten Hundes stammen muss. Das Heulen ist, wie ich wohl kaum zu erläutern brauche, eine Litotes, ein mildernder bildlicher Ausdruck. Es handelt sich natürlich darum, zu tun, was die Wölfe tun, nämlich die Schafe zu fressen und, wohlgemerkt, mit denen anzufangen, die man zu hüten hat.
WÄHLE VON ZWEI ÜBELN DAS KLEINERE
Hierüber herrscht Klarheit. Die mitleidigsten Seelen können sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass das Übel des Nächsten immer das kleinere ist und folglich gewählt werden muss. Schon seit langem ist den Psychologen aufgefallen, dass man immer genug Kraft hat, das Leid der anderen zu ertragen.
Was ich an diesem Ankläger liebe, ist, daß ich ihm eine leicht zu machende Beobachtung verdanke: heute weiß ich schon nicht mehr, was gestern im Fernsehen war. Léon Bloys Bellen hingegen haftet. Unheimlich ist, dass in all dem Geschwätz und Schund, in dem man vor dem Fernseher versumpft und langsam ausblutet, man einer beständigen Apologie von Staatsanwälten der Teufelsarschküsser beizuwohnen glaubt. Der Teufel hörte übrigens während all der langen Weile all dem zu „in einem furchtbaren Schweigen.“
An diesen Teufel glaube ich sogar, dem haben wir alle schon die Hand gedrückt.Meine Sympathien gelten dem Ankläger, der immer im Recht ist, das er nie bekommt. Seine hier nicht mitnotierten Rekurse auf Berufungsinstanzen wie regressive Utopien und Gottesknechtschaften der menschenfeindlichsten Art lasse ich dahingestellt sein, damit eventuelle Leser darüber selbst befinden. Eine Zurückweisung seines Ansinnens wegen Formfehlern würde ich ablehnen.
Dem Abstrakten des Absoluten abhold, schätze ich in ihm dennoch den hellsichtigen Verfolger todbringender Abstrakta. Das ist bis auf den heutigen Tag kein Popanz, was als MAN das Tun durchgeistert. Es heißt nur manchmal anders: in - out, musts and don´ts, trendy....
MAN...
Was ist dieses Man für den Bürger tatsächlich? Ist dieses von ihm beständig angerufene Abstraktum vielleicht der unbekannte Gott? Man kennt diesen Menschen nicht, Man liebt ihn nicht, Man hat ihn niemals gesehen, Man hat ihn oft genug gesehen. Gibt es treffendere, wirksamere Verdammungsurteile? Dieses Man verdichtet und belebt. Man kennt Sie gut, Man weiß ja, wer Sie sind, Man räumt Ihnen Kredit ein.
Jedesmal, wenn der Bürger spricht, klingt dieses geheimnisvolle Man, als würde ein Geldsack schwer auf den Boden gestellt in einem Nachbarzimmer, wo jemand umgebracht wurde.
denn die Welt ist draußen , und er mittendrin: Titus Petronius.
Arbiter elegantiarum unter Nero.
Umfassender Kulturkritiker:
"Wägst du so recht das eine gegen das andere ab, so ist überall Schiffbruch."
Freimütiger Betrachter der Differenz zwischen Prätention und praktischer Einlösung:
"Warum betrachtet ihr mich mit gerunzelten Stirnen wie Cato?
Regt ihr euch auf, weil mein Werk ungewohnt freimütig ist?
Ohne das Wort zu verfälschen, lacht es in heiterer Anmut.
Was ein jeder so treibt schildert es einfach und klar."
Ein aufgeklärter Kopf, an dem sichtbar wird, daß Ideologiekritik keine Erfindung der Neuzeit ist:
"Nichts ist verkehrter als die dummen Vorurteile der Menschen, und nichts ist dümmer als heuchlerische Sittenstrenge."
Interessiert sich für die merkwürdigen Allianzen zwischen Herrschaft und Heil, imperialem Geschäft und das Zuschlagen der Gewalt. Und dabei hat er noch nicht einmal Marx gelesen:
"Ach, was bewirken Gesetze, wo Geld doch allein eine Macht ist
und wo jeglichen Streit immer die Armut verliert?
Selbst wer den Rucksack des Kynikers immer geschultert herumträgt,
gibt seine Weisheit nur preis, wenn man ihn dafür bezahlt.
Also ist ein Urteil nichts andres, als käufliche Ware,
und wenn ein Ritter es fällt, dann ist es sicher gekauft."
Der Meister der Pläsierlichkeiten als Spielverderber? Dazu ist er zu elegant. Ein satirischer Parodist wie sehr viel später nur Musil, der es hinkriegte, mit der Beschreibung eines Klerikers zugleich einen Bolschewiken zu erwischen. Anspielungen sind zwar unverbindliche Belustigungen, sie irritieren gleichwohl. Der um sich greifenden moralphilosophischen Geschwätzigkeit und ihrer Zeitkritik rechnen sie die Unentrinnbarkeit ihrer Involviertheit ins allgemeine Verderben mit formvollendeter Eleganz vor.
Schroffe soziale Gegensätze führen zumeist zu schulmännischem Eifer philosophischer Lehren. Da sie keine Verbindung zur lebensweltlichen Alltagsrealität haben, ist Petron der Ansicht, dass die auch keinen geschworenen Anhänger namens Petron brauchen. Im wechselnden Rollenspiel der Stile und Anmaßungen zerstört er, was in sich selbst zusammenfällt.
Ein Ironiker, der auch vor Selbstironie nicht Halt macht, ist kein Mann, bei dem man sich Lösungen abholen könnte. Aber es ist schon viel und erholsam, wenn der Stolz der kleinen Leute (auf ihren täglichen Heroismus) von der Warte eines aufgeklärten Patriziers ausgehöhlt wird.
"Irrsinn beherrscht auch das Marsfeld: die Bürger lassen sich kaufen,stimmen für den, der das meiste verspricht und sich laut genug anpreist. Volk und Senat sind beide in gleichem Maße bestechlich.. Gunst wird bezahlt.... Rom machte sich selbst zur Ware... Außerdem packte das Volk ein doppelt gefährlicher Strudel: Unersättlicher Wucher zehrte es auf und Verschwendung. Sicher ist nirgends ein Haus, und jeglicher Kopf ist verpfändet."
Was das Oben und Unten der systemgerecht Herauf- und der davon geschädigten Herabgekommenen betrifft: in ihrer Dämlichkeit im Verbrauch von angeblichen ideellen Abhängigkeiten sind sie sich alle gleich:
"Wer seinen Wünschen Erfüllung gelobt, wer den Erdkreis verschachert- alle sind eifrig bemüht, sich eigene Götter zu machen."
Danke, Petron!
Für Leute, die viel Zeit haben, und eine humanistische Sozialisation verpaßt bekommen haben, eine lebenshilfliche Notration in dürftigen Zeiten.